René Leibowitz: Violinkonzert in einem Satz op. 50 (1959/1961)

René Leibowitz

geboren 17. Feb. 1913 in Warschau

gestorben 28. August 1972 in Paris

 

Entstehung:

Frühjahr und Sommer 1959 auf Anregegung des Geigers Ivry Gitlis

 

Uraufführung

1961 durch Ivry Gitlis am NDR Hannover. Dirigent: René Leibowitz

 

CD:
Einzige Aufnahme bisher: Gitlis 1961 (die Uraufführungs-Aufnahme)


Ohne Partitur eine Komposition in Zwölftontechnik zu beschreiben, dürfte wohl nur eine Annäherung an ein meines Erachtens hörenswertes Violinkonzert sein. Eine Partitur liegt nicht gedruckt vor. Es gibt auch bloss eine CD-Aufnahme, allerdings in brillanter Interpretation von Ivry Gitlis. Allein dessen Geigenspiel lohnt die Höranstrengung. Doch steckt auch in Leibowitzs Komposition viel Ausdrucksmusik und existentielle Stringenz. Zudem spürt man in diesem Violinkonzert die Auseinandersetzung des Dirigenten mit Beethovens Violinkonzert, das er in einer beispielhaften Weise zusammen mit dem Geiger Rudolf Kolisch auf Schallplatte aufnahm. Beethovens Musik, richtig, in den von Beethoven intendierten Tempi und transparent luftig gespielt, war für Leibowitz etwas Existentielles, ein herausragendes Phänomen, eine Utopie für den Geist der Moderne. Etwas von diesem beethovenschen Anspruch prägt nach meiner Meinung auch dieses leider vernachlässigte Violinkonzert.

 

Leibowitz machte als Dirigent eine bemerkenswerte Karriere, seine Einspielungen aller Beethoven Sinfonien sind legendär. Hinter diesen Ruhm zurückgefallen sind seine Werke als Komponist, die bewusst in der Nachfolge von Schönberg stehen. Doch nach Pierre Boulez polemischen Artikel «Schönberg ist tot», der nicht zuletzt gegen Leibowitz gerichtet war, galt Leibowitz als veralteter Zwölftonmusiker. Die objektivierbare serielle Reihentechnik sollte für die Darmstätter Komponisten die Ausdrucksmusik Schönbergs ablösen.

 

Einen ersten Zugang zum hörenden Nachvollzug dieses Violinkonzert op. 50 gibt Leibowitz selbst:

«Das Werk entstand im Frühjahr und Sommer 1959 auf Anregung des Geigers Ivry Gitlis, dem es gewidmet ist. Es lag dem Autor nichts anderes vor als ein echtes konzertantes Stück zu komponieren, welches nicht nur die Errungenschaften der modernen Geigen- und Orchestertechnik verwenden wollte, sondern auch gewissen formalen Problemen unserer Zeit eine authentische Lösung zu geben versucht. Im Großen und Ganzen ist das Werk einsätzig (in dieser Hinsicht dienten als Vorbilder verschiedene Werke derselben Art Arnold Schönbergs). Eine dreiteilige Gliederung lässt sich jedoch leicht feststellen: Exposition (meistens im Allegro Charakter), langsamer Satz (Variationen), Finale (Rondo). Eine lange Solo-Kadenz findet sich zwischen den beiden letzten Sätzen, eine zweite, von den Pauken begleitete Kadenz leitet in die Engführung vor der Coda des letzten Satzes.

Die thematischen Elemente der Exposition werden erst in den Zwischenspielen des Finales durchgeführt und auf diese Weise sind Ecksätze thematisch verknüpft. Dagegen ist der langsame Satz selbständig konzipiert. Als Vorbild diente dafür der langsame Satz des Beethovenschen Violinkonzerts, ein Werk, dessen wirkliche Bedeutung heute noch scheinbar oft missverstanden wird und dessen extreme Konsequenzen erst heute zur völligen Entfaltung gelangen können. Eine in der Solostimme ornamentale Variation des Themas in den Mitteln der Zwölftontechnik zu ‘verfertigen’, war für den Autor eine Aufgabe von besonderem Reiz.» (zitiert aus dem Begleitheft der DIVOX-CD mit Werken von René Leibowitz).

 

 

Hier zu hören!

Hörbegleiter:

Teil 1

Ein krasser heftiger Schlag des Orchesters reisst uns aus dem Alltag und dessen Hörgewohnheiten heraus, setzt die Welt für 20 Minuten in Klammer, jetzt gilt es auf Wesentliches und Neues zu hören. Ein einsamer, zuerst kaum hörbarer, sich steigernder Geigenton, der in eine Reihe von nicht voraus erahnbare Töne mündet, konzentriert unsere Sinne auf eine einmalige, dank der Zwölftontechnik neu erfundene Klangwelt, sanft untermalt vom fast romantisch klingenden Einsatz des Orchesters. Sanfte Rhythmen, dann Bewegungen in einer Geigenphrase, die nach dem Melos von Zwölftonmusik klingt. Die Musik wird geigerisch virtuos in Bewegung versetzt und einleitend sanft auf Neues eingestellt. Ein erstes Allegro-Thematikfeld, charakterisiert von Kraft und Energie, wird vom Orchester exponiert und von der Geige engagiert übernommen und wild verstärkt. Ein ruhigeres kurzes Zwischenspiel löst es ab, zuerst im Orchester, nachher in einer Art Rezitativ auch in der Solostimme. Das Orchester aber steigert ihren Einsatz und füllt den Klangraum immer wieder mit heftigen Zwischenrufen und Dissonanzen. Die Geige mitten drin stürmt heftig mit. Dann aber wird diese Energie abgelöst durch eine lyrischere Phase, sozusagen ein Nebenthemenfeld, einzelne Instrumente des Orchesters dialogisieren friedlich mit der Geige. Die Geige schwebt in hohen Tönen über allem, und sucht ihre eigene lyrische Sprache, findet einen eigenen Weg. Dann steigert sich die Musik in Rhythmik und Volumen, erneut packt die Geige alle ihre neuen Möglichkeiten aus.

 

 

Teil 2

Nach diesem von Pauken unterstützten Aufbäumen des Orchesters beruhigen sich Geige und Orchester. Es folgt ein von den Holzbläsern dominiertes neues Melos und feinere Klangräume, in die die Geige etwas später fast punktualistisch mit eintritt. Sich entwickelnde Variationen im Schönbergschen Sinn schliessen sich an. Schliesslich treten auch Blechbläser dazu, rhythmisch Akzente miteinbringend. Ob hier rhythmische Anklänge ans Larghetto des Beethoven-Violinkonzerts hörbar sind? Die Musik zieht langsam an einem vorüber, voller moderner Lyrik und Ausdrucksintensität. Der Gang der Geige wird immer wieder kontrapunktisch gespiegelt und von verschiedensten Klangfarben des Orchesters begleitet. Die Geige selbst verkündet Wesentliches über neue Musik und man wird von ihrem neuen Lyrismus umschmeichelt, wenn nicht gar verführt.

 

Schliesslich beendet das Orchester mit zwei Schlägen diese Episode,  diesen zweiten Teil des einsätzigen Violinkonzerts. Die Kadenz steht an und soll in den Schlussteil überleiten. Was für die Sprache der Geige wichtig und möglich ist, kommt in dieser Kadenz voll und in ganzer Breite zum Ausdruck: mehrstimmig, virtuos, frei und dissonant den Tongesetzen und den Klangmöglichkeiten der Zwölftontechnik folgend.

Teil 3

Nach dem Schluss der Kadenz eröffnet die Geige selbst das abschliessende Rondo, das von den rhythmischen Akzenten her kurz an Beethovens 3. Satz im Violinkonzert denken lässt. Das Orchester übernimmt die von der Geige vorgegebene neue Tempoverschärfung. Die Musik drängt rhythmisch vielfältig voran, in Bewegung gesetzt von der vorauseilenden Geige, bis dieser erste Schwung in der Zeit langsam ausläuft.

 

Ein Fagott mischt sich nochmals rhythmisch ein, kurzes Einhalten, wieder eine punktualistische Phase, in der alle Orchesterinstrumente ihre eigenen Farbtupfer setzen.

 

Dann findet die Sologeige wieder zum Rondo-Rhythmus zurück, fast tänzerisch spielt sie ihren nächsten Soloteil.

 

Langsam türmt sich dann eine Klangwolke immer mehr auf, bis zu heftigem Paukenwirbel. Von diesem Paukenwirbel getragen zuckt die Geige ihrem Ende entgegen. Also ob sie von den neuen Möglichkeiten selbst in Panik verfiele. Auch die Flöten können nicht mehr trösten. Alles zersplittert, dann ein Anlauf der Geige zum heftigen Schluss, und wir sind wieder in der Normalität des Alltags zurück.

 

 

 

 


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