Boris Tishchenko: ViolinKonzert Nr.1 op 9 + Violinkonzert Nr.2 op 84

Boris Tishchenko

geboren 23. März 1939 in Leningrad

gestorben 9. Dez 2010 St. Petersburg

 

Uraufführungen
Violinkonzert Nr. 1: 1967 in Leningrad durch Viktor Lieberman

Violinkonzert Nr. 2: 1982 durch Sergei Stadler 

 

 

CD-Aufnahmen

Violinkonzert Nr. 1: Liberman 1977

Violinkonzert Nr. 2: Stadler 1986


Boris Tishchenko (auch Tischenko oder Tischtschenko geschrieben) gehörte – zusammen mit André Volkonsky, Edinson Denissow, Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt und Sergej Slonimski - zur Avantgarde der russischen Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Das Violinkonzert Nr. 1 von Boris Tishchenko stammt aus dem Jahr 1959, als der Komponist noch Student in Leningrad war, und scheint 1964 überarbeitet worden zu sein. Trotzdem ist es mehr als eine Schülerarbeit, es ist ein auffallend originelles und individuelles Werk. Zentral ist der Mittelsatz.  Stilistisch  sind neoklassizistische Ansätze zu hören, die an den jungen Schostakowitsch der 1. Sinfonie erinnern. Die Violine ist zentral, führt ihre Themen ein und setzt sich originell mit dem Orchester auseinander. 

Hier zu hören:

1. Satz

2.+3. Satz

Satz 1 (Moderato)

Die Geige spielt ihr Thema, allein, einfach, lyrisch und gesanglich, mit einer einprägsamen rhythmischen Eigenheit, die den weiteren Verlauf des Satzes immer wieder prägen wird.

Das Orchester antwortet zuerst ebenfalls lyrisch mit Themenpartikeln in den Holzbläsern, bevor es mit wilden Einwürfen die Stimmung dramatisiert.

Aufruhr, die Geige stemmt sich dagegen und findet zuerst langsam, dann aber ganz unvermutet, wieder zurück zur idyllischen Stimmung des einleitenden Themas mit dem auffallenden Rhythmus. Die Musik wirkt jugendlich süss, als ob sich die Geige verliebt hätte und nicht loskommt von ihrem Thema.

Das Orchester wirft fast schmunzelnd und ironisch rhythmische Partikel des Themas hinzu. Dann erneut heftige Bewegung und Steigerung hin zur Kadenz der Violine, die sich ganz dem Thema und dessen rhythmischen Partikeln überlässt, ganz auf sich selbst und ihre Ideen  bezogen. Dann Paukenschläge. Heftiger Einspruch des Orchesters. Der Ausklang des Satzes aber wird melodiös und schwärmerisch, die Holzbläser kommen wieder mit ihrer lyrischen Melodie und tragen ihren Teil zu einem süss-schönen Ausklingen des Satzes in der Geige bei.

Satz 2 (Allegro moderato)

Sanftes Murmeln in den Klarinetten, sie fliessen in Achteln dahin, darüber beginnt die Geige zu singen, ihr Hauptthema kann aber gegenüber dem zunehmenden Fliessen und Wogen des ganzen Orchesters nicht bestehen. Steigerung des Achtelgemurmels, angetrieben vom heftig auftretenden Schlagzeug, und Ausbruch des ganzen Orchesters. Dissonantes Trompetengeschmetter und Posaunenglissandi, wilde Holzbläser, schliesslich bleibt vom fliessenden Gemurmel nur noch der harte Rhythmus im Schlagzeug übrig. Dann ein plötzlicher Abbruch, die Geige allein, nur unterbrochen vom Schlagzeug, die Geige verliert sich in eine Kadenz mit Sololäufen, Glissandis und ermattet schliesslich immer mehr… das Gemurmel ist vergessen und die Geige leitet einsam verklingend attacca in den dritten Satz über.

Satz 3 (Andantino)

Wieder trägt die Geige wie im ersten Satz ein eigenes nachdenkliches Thema allein vor, melancholisch, betrübt. Die Pauke gibt darauf den Takt an für ein zweites langsam schreitendes tänzerisches Thema in den Streichern des Orchesters. Die Geige tanzt langsam mit.

Tiefe Klänge des Orchesters mischen sich ein. Die Geige steigert sich in Melodiefiguren und Doppelgriffe. Immer heftigere Einwürfe des Orchesters. Erst etwas später beginnt die hohe Flöte zu singen und findet zurück zur lyrischen Stimmung, die Geige übernimmt die Stimmung zärtlich und führt zum ersten melancholischen Thema zurück, von sanften Klängen der Streicher und von einem Glockenspiel begleitet. Alles endet in einem Cluster der hohen Streicher, versonnen, verliebt, träumerisch, ganz jugendlich schwärmerisch.

  

Für mich ein frisches, manchmal wildes jugendliches Konzert, öfters sehr lyrisch, etwas selbstverliebt, aber wunderschön melodiös, bis zur Terzenseligkeit sich verlierend. Hier singt sich ein verliebtes und schwärmendes Herz aus. Und all das in einem originellen neoklassizistischen Gewand. Man spürt den Einfluss seines Lehrers Dimitry Schostakowitsch und seiner Lehrerin Galina Ustvolskaya.


Violinkonzert Nr. 2 op 84

Trotz des sehr virtuos gehaltenen Soloparts versteht der Komponist sein viersätziges Werk mehr als Sinfonie mit obligater Violine denn als Violinkonzert. Die Zeitschrift Gramaphone schreibt über Tishchenkos zweites Violinkonzert: "Es ist eine Musik, die sich zwischen den Schostakowitschschen Polen des knappen Epigramms, des makabren Prunkes und des düsteren Antipessimismus bewegt. Ihr nächster Verwandter unter den neueren Violinkonzerten ist wahrscheinlich Penderecki, aber Tishchenkos Befreiung von Selbstmitleid und seine größere Sensibilität und sein musikalischer Einfallsreichtum heben sein Werk auf eine ganz höhere Ebene."

Hier zu hören:

1. Satz

2. Satz

3. Satz
4. Satz

 

Hörbegleiter aus dem Booklet der CD von Northen Flowers:

 

Satz 1 (Allegro moderato)

"Der erste Satz (Allegro moderato) ist eine gewaltige Einleitung, die eine dramatische Entwicklung aufweist, deren offensichtliches Understatement jedoch ein weiteres ernstes Gespräch erfordert. Er beginnt mit einem Choral der Waldhörner, einem Motiv von großer Bedeutung für den gesamten Satz.

In der Kulmination treten die Hörner wieder in den Vordergrund, diesmal aber mit einem mächtigen Thema von heroischer Haltung. Groteske, Ironie, Scherzoso-Attitüde und eine gewisse Inkohärenz sind charakteristisch für den
ausgedehnten Anfangsteil - all das ist typisch für Tishchenkos Erzählweise.

 

Und wie so oft bekommt die musikalische Bewegung ganz unerwartet einen stählernen Klang. Die ostinaten Rhythmen und das allmähliche Hinzutreten des
Schlagzeugs und der Blechbläser des Orchesters führen zu einem  kraftvollen Höhepunkt.

Danach kehren die verstreuten Motive des Anfangs wieder. Die melodischen Formeln der Waldhörner, diesmal gedämpfter, tauchen wieder auf; die musikalische Textur löst sich allmählich auf in einem hohen, klaren Register des Solisten und des Orchesters."

 

Satz 2 (Presto)

 

"Das Presto des zweiten Satzes beginnt mit einer Kadenz des Solisten. Eindringliche virtuose Antworten der Violine erzeugen ein Gefühl der Suche nach dem Thema, der Besessenheit, der Frage. Nach und nach schließen sich andere Instrumente des Orchesters dem Solisten an, bis schließlich ein schneidiges Scherzo erscheint,
dessen Fröhlichkeit trügerisch ist: Unter den zügellosen, federnden Rhythmen und den eingängigen, entschlossenen Intonationen ist etwas Satanisches zu hören. Nach einigen Pausen nimmt das Scherzo wieder Fahrt auf und versinkt allmählich in einem kontrolierten Klangchaos. Nach einigen gescheiterten Versuchen, das fast verlorene Scherzo wiederzufinden, beginnt eine Violinkadenz von mega-großem Umfang und Anspruch. Wahrscheinlich hat sie keine Parallele im weltweiten Konzertrepertoire: Tishchenko verwendet hier alle möglichen und unmöglichen Techniken für Streicher. Auf die Kadenz folgt der dritte Satz, ein Allegro."

Satz 3 (Allegro)

 

"Es folgen Variationen im klassischsten Sinne des Genres. Genauer gesagt handelt es sich sogar um Rondo-Variationen, da das Hauptthema mit seiner ersten kraftvollen Tutti-Akkordmelodie, fast unverändert wiederkehrt.

Aber das musikalische Material des dritten Satzes wird ständig variiert,
es erscheint in skurrilen instrumentalen und rhythmischen Kombi-nationen. Das Hauptmotiv wird durch Zweitstimmen, Details und Techniken überlagert (nicht nur im Solopart, sondern auch bei vielen Orchestersoli), und, wie so oft bei Tishchenko, findet zudem eine anhaltende Steigerung der Lautstärke statt.

Der dritte Satz bricht beim mit dem Erklingen des Hauptthemas ab, dessen variierendes Metrum vage an Strawinskys Danse Infernale aus Der Feuervogel erinnert."

Satz 4 (Andante)

 

"Das Finale, Andante, besteht ebenfalls aus Variationen, nun aber in Form einer Passacaglia zu einem unveränderten Bass. Mehrere berühmte Passacaglien von Schostakowitsch kommen einem in den Sinn, vor allem diejenige aus dem Violinkonzert Nr. 1.
Tishchenko scheint sich in seinem zweiten Violinkonzert an seinen Mentor zu erinnern, indem er den alten polyphonen Stil aufgreift.

Der Unisono-Beginn des ersten Themas, der vom gesamten Orchester vorgetragen wird, klingt wie ein Appell, wie eine
Aufruf zum Kampf. Als Reaktion folgt eine
Antwort voller Zärtlichkeit und Trauer. Das Unisono des Orchesters wird dreimal wiederholt, als wolle es an das Gespräch von Orpheus mit den Furien erinnern. Dann folgen in der Passacaglia 16 Wiederholungen eines unveränderten Themas im Bass; der Klang vergrößert sich allmählich. Am Höhepunkt erscheint die aufrufende Stimme wieder, und erneut besteht die Antwort aus Ruhe und Versöhnung. Die letzten Seiten der Partitur bringen den Hörer zurück zum Material des ersten Satzes. Die Musik löst sich im oberen Register auf und wiederholt den  Schluss des Allegro moderato. Sie spannt damit einen konzeptionellen Bogen und zieht einen Kreis, in dessen Zentrum es Raum gibt für Drama, Sarkasmus, Liebe und Fragen der Existenz, kurzum für alles, was uns umgibt."



www.unbekannte-violinkonzerte.jimdofree.com

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tonibernet@gmx.ch