Raffaele d'Alessandro
geboren 17. März 1911 in St.Gallen
gestorben 17. März 1959 in Lausanne
Enstehung:
1941 (30. Okt. - 7. Nov.)
Uraufführung:
Sibylle Tschopp 1997
CD-Aufnahme:
Sibylle Tschopp 1997
Zu einem völlig zu Unrecht vergessenen Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört Raffaele d’Alessandro, obwohl er die mehrsprachige Schweiz in seiner Biografie ideal verkörpert. Im deutschschweizerischen St. Gallen wuchs er als Kind eines italienischen Einwanderers und einer bündnerischen Mutter auf. 1934 ging er zu Studien bei Nadia Boulanger, Marcel Dupré und Paul Roes nach Paris, musste aber wegen des Kriegs 1940 in die Westschweiz zurückkehren, wo er, in Lausanne wohnhaft, sich als freischaffender Pianist und Komponist durchschlagen musste. Er starb am Tag seines 48. Geburtstages, völlig verarmt, infolge innerer Verblutungen nach dem Bruch einer Aorta. Leider wurden seine Werke danach kaum mehr aufgeführt, die serielle Musikrevolution, aus Frankreich kommend, hat sein Werk völlig überrollt, obwohl d’Alessandro alles andere als traditionelle Musik komponiert hat. Er wurde zu Lebzeiten von Dirigenten wie Ernest Ansermet oder Paul Kletzki sehr geschätzt, Eugene Ormandy in Philadelphia und Dinu Lipati spielten Werke von ihm in öffentlichen Konzerten.
Stilistisch enthält sein Werk Elemente des französischen Impressionismus ravelscher Art, des Expressionismus und Neoklassizismus, allerdings in einer schöpferischen Neu-Kombination, was Ostinato-Rhythmus, Bitonalität, Form und Harmonik betrifft. Sein Werk besteht aus rund 80 Opuszahlen, viel Klaviermusik (u.a. die 24 Préludes), Kammermusik und zunehmend mit seiner kompositorischen Entwicklung auch Orchesterwerke, Instrumentalkonzerte und Sinfonien. Sein Tod aber war offensichtlich auch ein Abbruch einer vielversprechenden Karriere, die für einen Komponisten erst hätte beginnen können.
Das Violinkonzert von Raffaele d’Alessandro entstand in Lausanne 1941 innerhalb von acht Tagen. Aufgeführt wurde es damals nicht. Erst 1997 wurde es vom Winterthurer Stadtorchester und der Geigerin Sibylle Tschopp uraufgeführt und wurde von Publikum und Presse mit Begeisterung aufgenommen. Formal besteht es aus einer Einleitung und einem Satz in Sonatenform, für die er eine besondere Schwäche habe, wie er mit gewissem ironischem Unterton schreibt:
«Eine besondere Schwäche habe ich für die klassische Sonatenform, die mich unter allen musikalischen Formen gleichzeitig als die strengste und, innerhalb ihrer festgezogenen Grenzen, als die vielfältigste anspricht. Deshalb ist wohl mindestens die Hälfte meiner Kammer- und Orchestermusik in Sonatenform geschrieben. Allerdings gestatte ich mir, seit mehreren Jahren schon, im Sonatensatz etwas von der Regel abzuweichen, indem ich die Hauptthemen in der Reprise kontrapunktisch übereinandersetze statt sie, wie in der Exposition, einzeln wiederkommen zu lassen. Diese etwas unorthodoxe Vergewaltigung der Tradition hat immerhin Folgendes für sich: Die Reprise zeigt von selbst ein anderes Gesicht als die Exposition und wird verkürzt zugunsten der Durchführung, welche, vom Kompositionstechnischen her gesehen, den interessantesten Teil des Sonatensatzes darstellt (in einsätzigen Sonaten dieser Form lasse ich der normalen Durchführung eine zweite, als langsamer Satz wirkende Lento-Durchführung folgen). – Damit hätte ich die einzige Erfindung meines Lebens angepriesen, in Ermangelung eines Besseren. Das Ei des Columbus ist eben nicht von mir entdeckt worden. Aber schliesslich soll es ja einem schaffenden oder nachschaffenden Künstler nicht darauf ankommen, das Nochniedagewesene an den Haaren herbeizuziehen als darauf, einerseits die als Segen oder als Belastung auf dem Lebensweg mitbekommene Begabung zum Besten zu verwenden, keine Konzessionen zu machen, selbstkritisch und seiner Kunst gegenüber loyal zu sein, und andererseits – eben deshalb – hin und wieder auf die Zähne zu beissen.» (Raffaelo d'Alessandro 1955, zitiert in: Luise Marretta-Schär, Raffaele d’Alessandro. Leben und Werk, Zürich 1979, s. 65)
Im Violinkonzert op 41 finden wir dieses formale Prinzip erstmals in seinem Werk umgesetzt. Nach der Introduzione, quasi cadenza folgt die Sonata, mit den Teilen Allegro marcato, Grave und Tempo I.
Hörbegleiter:
Langsam steigt ein schleichendes Ostinato chromatisch aufwärts, ohne irgendwo anzukommen. Dann ein unvermutetes Einhalten. Die Violine setzt solo ebenfalls chromatisch an, zwei Töne von a zu b, dann setzt sie ab und beginnt nochmals chromatisch bei g, a, b, kommt weiter und findet schliesslich nach drittem Ansetzen zu einem grossen mystisch-expressiven Melodie-bogen. Gedämpft setzt wieder das ebenfalls chromatische Ostinato des Orchesters ein, dazu ein Holzbläser Chor. Nochmals spielt die Geige in hoher Tonlage ihre expressiv aufgeladene Melodie, dazu spielt ein Blechbläserchor einen Choral und verleiht dieser Einleitung eine mystisch religiöse Vertiefung. Beginnend in tiefer Lage führt die Geige aufwärts zu einer Art Kadenz, die aber sofort durch zwei bedrohliche Paukenschläge unter-brochen wird. Schnell entflieht die Geige vor der Bedrohung und führt attacca in ein ernstes tanzartiges Allegro marcato-Hauptthema.
Dunkel gefärbt und seltsam getrieben startet in der Sologeige das tänzerisch daherkommende Hauptthema, das aber eher Totentanz-Assoziationen wecken könnte. Es wird etwas später vom Orchester im Tutti rhythmisch und harmonisch übernommen und ins Unheimliche gesteigert. Der Tanz dreht sich im Geigenspiel weiter, wird aber zunehmend ruhiger und lyrischer und führt zum Seitensatz innerhalb der Sonatensatzform. Ein Oboensolo und ein Flötensolo ergänzen das Spiel der Geige, die weiter vor sich hin spielt, sich auf repetitive Floskeln verlassend, wie von irgendetwas Hintergründigem getrieben. Dann ein Orchesterzwischenruf, der zur ersten Durchführung des Konzertsatzes führt. Die Geige zuerst, dann das Orchester spielen mit dem Hauptthema, wandeln es ab und steigern es leidenschaftlich. Ein volles Tutti des Orchesters treibt in Ekstase und Aufruhr, bis eine Pizzicatoepisode zurückführt zu einer zweiten ruhig ansetzenden Durchführung, sozusagen zum langsamen Satz des Konzertes.
Nach den Pizzicati der Streicher des Orchesters beginnt die Geige leise mit einer ruhigen Melodie, die an die Chromatik der Einleitung erinnert. Die Oboe übernimmt, das Orchester bringt sanfte Klänge, Pauken schlagen leise und unrhythmisch, die Geige lässt sich nicht von ihrer Melodie abbringen und spielt ihren Gesang, bis der grosse Bläserchoral und ein neobarockes Streicherensemble ihren Gesang grossartig ausklingen lässt. Doch es verbleibt fast resignativ ein einsames Englischhorn, die Geige schliesst sich dem Englischhorn mitfühlend an. Zweimal erklingen traurige und einsame chromatische Linien in Englischhorn und Geige. Eine kurze kadenzartige Überleitung führt danach langsam aber sicher zur ursprünglichen Motorik des Tempo primo zurück.
Die Geige bringt ein an den Anfangstanz erinnerndes Thema mit voller Ostinato-Energie zurück, sozusagen als verkürzte Reprise. Das Orchester folgt mit Posaunenwucht, übernimmt die wilde Motorik und steigert sie immer mehr. Ein letztes Aufbäumen der Sologeige wird mit heftigen Posaunen- und Trompetenstössen und einem letzten endgültigen Paukenschlag brüsk abgewürgt.