Georg Friedrich Haas: Zweites Violinkonzert für Violine und Orchester (2016)

Georg Friedrich Haas
Georg Friedrich Haas

Georg Friedrich Haas

geboren 16. Aug. 1953 in Graz (A)

 

Uraufführung

7. Sept. 2017 durch Miranda Cuckson in Tokyo (Jap)

 

Aufnahme:

2022 Miranda Cuckson, auf Youtube abhörbar


Der international berühmte zeitgenössische österreichische Komponist Georg Friedrich Haas (*1953) hat sein Zweites Violinkonzert für die australische, in New York lebende Geigerin Miranda Cuckson komponiert, die es 2017 in Tokyo uraufgeführt hat. Interessant ist, wie Miranda Cuckson auf die Aufforderung antwortet, dieses Violinkonzert jemandem zu beschreiben, der es noch nicht kennt. Bei jedem neuen zeitgenössischen Musikwerk steht man ja vor der Tatsache, dass noch keine Aufführungstradition und noch kein, das Hörerlebnis vorstrukturierender Interpretationsansatz vorhanden sind. Es ist eine Chance, mit der ersten Interpretin dieses Werks selbst auf die Suche zu gehen, um tiefer in dieses Werk einzudringen:

 

«Haas‘ neues Konzert für Geige und Orchester hat eine Dauer von über 30 Minuten. Die Atmosphäre ist recht düster und turbulent. Die Musik scheint eine ruhige, sanfte Stimmung anzustreben, dies wird jedoch durch drohende Gewalt verhindert. Die Interaktion zwischen Solistin und Orchester drückt die wechselnde Dynamik dieser aufwühlenden Kräfte aus. Das Werk ist auf eine besondere Weise Teil der Tradition des romantischen Konzerts, wagt sich jedoch durch seine ungewöhnliche Form, seine Harmonien und die Behandlung des Orchesters auch in experimentelle Bereiche.

Die Violine spielt manchmal ausladende Gesten, die sich über die Textur legen, von tiefen Ausbrüchen bis hin zum extrem hohen Register der Violine reichen. Sie hat einige exponierte, ergreifende Melodien sowie schnelle Passagen mit Arpeggien und Tonleitern. Obwohl sie im Wesentlichen idiomatisch sind, enthalten sie manchmal Mikrotöne und schaffen Modi, die weniger vertraut sind als die Tonleitern und Arpeggien, mit denen klassische Musiker aufwachsen und vertraut sind! Der Grad der Mikrotonalität ist in einem Konzert ungewöhnlich, und stellt eine Herausforderung für die Stimmung und das Ensemble dar. Haas lässt die Streicher manchmal divisi spielen, je ein Spieler pro Stimme.

Das Konzert besteht aus neun ineinander übergehenden Teilen: Präludium (1), Kadenz (2), Resonanz und Feedback (3), Dreistimmige Invention (4), Sgraffito (5), Sotto voce (6), Interludium (7), just intonation (8) und Aria (9).»

 

 Wie schon in seinem ersten Violinkonzert 1998) kollidieren auch hier aus Obertonreihen gebildete harmonische Strukturen mit Tritonus- oder Quart/Quint-Akkorden, die in schier endlose Klangschleifen münden.

 Auch Zitate des Komponisten über seine Sicht auf Musik können den Einstieg in dieses Werk ermöglichen und erleichtern.

 

„Schon früh war mir zweierlei bewusst: Die zwölf Töne, die ein Klavier pro Oktave aufweist, sind mir zu wenig. Ich brauche engere Intervalle, feinere Abstufungen. Und ich will Ausdruck komponieren, emotionale Musik, die berührt und ergreift“

 

«Wer ernsthaft komponiert, geht an die Grenzen des Möglichen, egal ob er Bruckner heisst oder Lachenmann oder Cerha oder Ligeti.»

 

«Ich hoffe, dass man aus meiner Musik gar nichts lernen kann, denn es ist nicht meine Absicht, mit erhobenem Zeigfinger daher zu kommen und zu sagen: ‘Achtung meine Damen und Herren, das sind jetzt Obertonreihen! ’ Das ist nicht die Idee, sondern ich will die Menschen erreichen, die Menschen berühren, ihre Sensibilität erweitern und - das was Kunst kann - wach machen.»

 

«Der Verlust der Religion ist eine schmerzliche Lücke. In diese schmerzliche Lücke ist für mich die Musik im Besonderen und ganz allgemein die Kunst getreten. (…) Wir leben heute in einer Zeit, in der das Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität von völlig falschen Seiten und gefährlichen Seiten scheinbefriedigt wird. Die Kunst ist der einzige Bereich, den ich kenne, in dem Spiritualität und Rationalität 100prozentig und widerspruchslos ineinander übergehen können, (…) und das ist das, um was ich mich als Komponist in meiner Musik bemühe.»

 

Bereits zum ersten Violinkonzert hat G.F. Haas sein Verständnis eines Solokonzerts so beschrieben:

 

«Ich verstehe das Solokonzert nicht im Sinne des romantischen Virtuosenkonzertes, bei dem der Solist brillieren und sich als glänzendes Individuum, als Führer eines Kollektivs zeigen kann. Für mich bietet die Form des Konzertes die Möglichkeit, darzustellen, wie sich eine einzelne Gestalt gegenüber einem Kollektiv verhält. Ich präsentiere also nicht einen strahlenden Solisten, der das Ensemble dominiert, wohl aber eine Figur, die Resonanzen erzielt. Und es gibt auch Momente, in denen der Solist durch das Ensemble regelrecht, niedergetreten wird, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt.»

 

 Hier zu hören!

 

Ein Hörbegleiter zum konzentrierteren Mithören:

 

 

I. Präludium (00'00)

Schrill startet gleich zu Beginn die Sologeige mit langgezogenem Doppelgriff in D/G, und wird aufgefangen von sanft gleissenden Quintenklängen vielfach aufgeteilter Streichinstrumente, die an ein sich einstimmendes Orchester erinnern.

 

Nochmals setzt ein langer Geigen-Doppelgriff ein, diesmal harmonisch in E/GIS, wieder gefolgt von der mehrmaligen Resonanz des Streicherklangs.

 

Von gedämpften Posaunen leise untermalt bringt die Geige pianissimo in hellerer Farbe ihren leisen Doppelgriff A/FIS.

 

Das sanfte Ausklingen wird abgelöst von einer neuen warmen Klangfarbe der Holzbläser, ebenfalls auf einem langen Ton zuerst der Klarinetten, dann ebenfalls auf A/FIS in den Flöten. Die Flöten hellen auf. Im hellsten Licht bricht der Klang plötzlich ab, nur ein Akkordeon in höchster Lage ist kaum hörbar, alles stockt, bis die Geige forte in C/CIS wiederbeginnt. Langsam und stetig steigert sich die Resonanz im Orchester, ein dunkler Tuba-Klang fügt sich dazu, der Klang schwillt an, bis es mit Anlauf im Orchester zu einem heftigen Fortissimo-Ausbruch kommt, der für den Einsatz der Kadenz der Geige den nötigen Leerraum schafft.

II. Kadenz (03'20)

Mit einem Verzweiflungsaufschrei wirft sich die Sologeige in ihre Kadenz. In höchsten, eisigen Tönen findet sie ihren emotional erregten Ausdruck. Zweimal wird sie von heftigen Schlägen des Orchesters unterbrochen. Die Geige stürzt sich in zunehmend hastigere Abwärtsfiguren.

 

Dann setzt sie mit langsamen ruhigen Strichen choralartig neu ein, singt fast romantisch ihre Melodie vor sich hin. Wieder schlägt das Orchester mehrmals hart dazwischen und treibt die Geige emotional vor sich her, sodass sie keine Ruhe findet.

 

Über unruhigen Tremolos irrt die Kadenz dahin, auf und ab und rastlos voraneilend. Nochmals heftige Orchesterschläge lassen die Geige in höchsten eisigen Tönen fast erstarren. Nur langsam beruhigt sich diese frostige Geigenexaltiertheit und findet in mehrmaligen Pizzicatoansätzen und Gettato-Bogenstrichen etwas Beruhigung und Freiheit aus dieser verzweifelten Gespalten- und Getriebenheit.

III. Resonanz und Feedback (09'00)

Eine tiefe, weiche auf der G-Saite beginnende Melodie (aufsteigend mit As-C beginnend) bringt etwas Frieden ins Geschehen. Das Orchester antwortet mit einem warmen, sich darunter ausbreitenden Resonanzraum.

 

Mit extrem hohem Ton legt sich die Geige über diese Klangtextur, um dann zurück zu stürzen in ihre ruhigere Tonlage der choralartigen Melodie. In ständigem Klangwechsel, von Klangresonanzen des Orchesters begleitet und bedroht, sucht die Geige weiter der Spur des Chorals zu folgen (Ist es ein Anklang an Bachs Choral «Es ist genug», den Alban Berg in sein Violinkonzert zwölftonmusikalisch einbaute?), bis alles nach unten glissandiert.

 

Erst jetzt setzt die Klangwelt der choralartigen Melodie des Anfangs dieses Abschnitts erneut an. Tiefe Celli übernehmen die Melodieführung, vorerst noch wohltuend spirituell. Immer schneller bewegt sich die Klangwelt und die Sologeige treibt mit ihrem Accelerando die Musik voran, stockend und repetitiv, auf- und abwärts sich bewegend. Dunkle Doppelgriffe lösen diese Auf- und Abwärtsbewegen ab, am Schluss bleibt dunkle Resonanz und hohes Akkordeongezirp.


IV. Dreistimmige Intervention (14'45)

Aus der verbleibenden Klangwolke löst sich die Geige von oben herabsinkend in eine Welt, wo kurzzeitig dissonante Mehrstimmigkeit vorherrscht: zwei Soloviolin-Stimmen spieln mit dem Geigenchor des Orchesters zusammen herausfordernd schneidende Polyphonie. Kompositionstechnisch ist jede Linie des Kontrapunkts ein Strang aus mikrotonalen Clustern.

 

 

 

V. Sgraffito (16'40)

 

Über Posaunen-, Bläser- und Harfenklang bauen sich neue Klangballungen auf. Harfenglissandi und dann Einwürfe des Schlagzeugs strukturieren die Klangräume, bis die Geige mit ihren gedämpft gespielten Auf- und Ab-Bewegungen zuerst unter den Orchesterschichten unhörbar wieder einsetzt und langsam hervortritt, von tremolierenden und crescendierenden sowie decrescendierenden Orchesterfarben untermalt. 

(Der Begriff Sgraffito ist vom italienischen Verb sgraffiare oder graffiare, deutsch kratzen, abgeleitet. Es handelt sich in der Architektur um eine Dekorationstechnik zur Bearbeitung von Wandflächen. Wikipedia).

 

VI. Sotto Voce (18'00)

 

Während die Geige ungestört ihre Bewegungen weiterführt, tritt der Klang des Orchesters in den Hintergrund zurück. Ungewohnte Whisle- und Clustertöne sowie Klappengeräusche der Holzbläser werden im Hintergrund hörbar. Tempelblock-Rhythmen mischen sich dazu.

 

Eine melodiöse, auf und ab wandernde Tonreihe in der Geige, zuerst im tieferen Bereich, dann wieder in hohen Tönen, zieht über den Geräuschen und Klängen vorbei und beschleunigt sich kontinuierlich. Das Melodiöse verwandelt sich in dunkle Glissando-Schleifen. Extrem hoch bleibt ein Geigen-Ton liegen.

 


VII. Interludium (20'35)

Kaum bemerkbar verwandelt sich der Resonanzraum des Orchesters in ein Allegretto. Ein feiner extrem hoher Ton der Geige schwebt darüber, bis sich dann zweimal eine Glissando-Melodieschleife in der Geige hervortut. Gongschläge im Orchester klingen dazwischen.

 

Nochmals zwei Melodieschleifen in der Geige. Pauken im Untergrund. Die Klangwolke des Orchesters verdichtet und vereinheitlicht sich ...

 

VIII. just intonation (23'50)

… und konzentriert sich immer mehr um den Ton des um einen Viertelton erhöhten G. Unisono wird dieser lange G-Ton ausgehalten. Die Sologeige spielt hoch darüber Töne ihrer Tonreihe. Mehrere Sekunden lang werden diese Intonationseinheiten ausgesponnen und ausgehalten.

 

Dann beginnt der Einheits-Ton von innen heraus zu strahlen, die Harmonie weitet sich, Harfenklänge füllen den Klang. Vibraphon, Marimba und Blechbläser bis tief hinunter zur Basstuba kommen dazu und reichern die Klangfülle weiter an.

 

Die Streichinstrumente halten mehrere ausgezählte Sekunden lang einen präzisen Obertonakkord aus, die Geige spielt dazu ihre melodiösen mikrotonalen Tonreihen.

 

Ein heftiger ff-Posaunenton füllt den Raum. Seinem Verklingen folgt ein ebenso heftiger ff-Trompetenstoss, der ebenso langsam verklingt.

 

Schliesslich singt die Geige in richtig gestimmten Terzen-Doppelgriffen eine süsse, hoffnungsvolle Melodie. Harmonisch neu und frisch wirkende Klangharmonien folgen als Resonanz.

 

Einsam steigt die Geige in Septimen empor und führt weiter zur abschliessenden Aria, die von warmem Orchesterklang eingeleitet wird.

IX. Aria (28'50)

Orchester und Paukenrhythmen im diskreten Hintergrund begleiten die Geige, die ihre mehrstimmige Melodie weit ausbreitet. Ein Pulsieren im Orchesterklang tritt immer bedrohlicher in den Vordergrund. Die in Extremhöhen hochgetriebene Geige gerät mit ihrer Melodie immer mehr in Bedrängnis und wirft sich wieder und wieder in ihre flüchtigen und hastenden Auf- und Abwärtsbewegungen, wird aber weiter und weiter gehetzt, bis sie ermüdet absinkt und einfach mitten im Geschehen abbricht…. und die Zuhörenden in allem Schönen und Bedrohlichen allein zurücklässt.

 


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