Emil Nikolaus von Reznicek: Violinkonzert e-moll (1918)

 

E. N. von Reznicek

geboren 4. Mai 1860 in Wien

gestorben 2. August 1945 in Berlin

 

Erste Uraufführung:

26. Feb. 1926 in Berlin durch Ignatz Waghalter 

Zweite Uraufführung:

1941 in Berlin durch Alice Schoenfeld 

 

Aufnahmen:

Erich Röhn (1943)

Michael Davis (1984)

 


Die Entstehungsgeschichte des Violinkonzertes e-moll von Emil Nikolaus von Reznicek verlief ungewohnt und kompliziert. Das ist wohl ein Grund dafür, dass dieses interessante Werk kaum gespielt wird. Mit seiner 5-Minuten-Ouvertüre zur Oper Donna Diana gehört Reznicek zu jenen Komponisten, die mit einem ihrer Werke so grossen Erfolg hatten, dass in der Folge  alle übrigen Kompositionen in den Hintergrund versetzt und fast vergessen wurden. 1894 war die Uraufführung der Oper Donna Diana in Prag. Als Zeitgenosse und Freund von Richard Strauss, aber auch als dessen Konkurrent, war er als Komponist und Dirigent in ganz Europa tätig und hinterlässt ein reiches Werk, das erst langsam wieder wahrgenommen wird. Dabei verdienen es Orchesterkompositionen wie Schlemihl (1912) oder die 3. Sinfonie im alten Stil (1918) neu aufgeführt zu werden, Werke, die in ihrer farbigen Orchestrierung und etwas grotesken und selbstironischen Art durchweg zwischen Mahlers Weltanschauungs-Sinfonien und Richard Strauss’ jugendlich überschwänglichen Sinfonischen Dichtungen ihren Platz hätten.

Über sein Violinkonzert e-moll schrieb Reznicek:  

«Als Interpreten für den Solopart hatte ich eine unglückliche Wahl getroffen und dadurch auf

Jahre hinaus die Lust an dem Stück verloren. In solchen Fällen bin ich nämlich

eigen. Ich bin keiner von denen, die, wenn sie was komponiert haben, anbetend vor

jeder Note knien. Wenn ich aus irgendeinem Grund in dem Stück ein Haar gefunden

habe, lege ich es bis auf weiteres in die Schublade. Dieses Weitere bezüglich des

Violinkonzertes hat sich vor einigen Monaten in Gestalt einer zwanzigjährigen Geigerin

[Alice Schoenfeld] gefunden, die das Stück im Rundfunk auf die Platte gespielt hat

und zwar mit ausgezeichnetem Gelingen, und es wurde in Aussicht genommen, diese

Platte demnächst zu senden. Der musikliebende Hörer kann sich dann selbst ein

Urteil über das Stück und die Interpretin bilden. Ein Urteil darf ich mir aber (als

Ausnahmefall) selber gestatten: Es ist für, nicht gegen die Geige geschrieben.»

 

Die Entstehungsgeschichte scheint im Detail folgendermassen abgelaufen zu sein:

1918 schrieb Reznicek ein dreisätziges Konzertstück für Violine und Orchester in E-Dur. Es war Ende August 1918 vollendet.

Was ihn darauf veranlasste, das Violinkonzert nochmals zu schreiben (ev. aufgrund eines neu eingetroffenen Auftrags des Geigers Carl Flesch?), ist nicht klar. Auf jeden Fall entsteht jetzt ein Konzert in e-moll, in klassizistischer Spätromantik, mit feinen Anspielungen an Mendelssohn. Für dieses neue Konzert übernimmt Reznicek den zweiten Satz aus dem E-Dur Konzertstück und schreibt zwei neue, völlig verschiedene Ecksätze.

Dieses Konzert wurde von Flesch abgelehnt, es sei aufbereiteter Bériot (wie man nur auf diese Idee kommen konnte?). Das e-moll Violinkonzert ging dann 1924 in Berlin in Druck und wurde am 26. Februar 1925 von Ignatz Waghalter uraufgeführt, eine Aufführung, die Reznicek als ungenügend gut gespielt empfand. Das Konzert blieb ab dann liegen, erst 1941, als Reznicek bereits 81 Jahre alt und krank war, wurde es von Alice Schoenfeld nochmals gespielt, und diese Aufführung galt dann für Reznicek als offizielle Uraufführung.

 

Auffallend am e-moll Konzert ist seine Orientierung an Mendelssohn, unüberhörbar gleich zu Beginn, aber auch sonst formal und in den typisch sich wiederholenden Geigenläufen aufwärts.  Ob diese Orientierung an Mendelssohn (Reznicek studierte in Leipzig bei Carl Reinecke und Salomon Jadassohn)  mit einer allgemeinen Sehnsucht nach Neuorientierung nach der auch geistigen Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu tun hat? Neuorientierung wurde kulturell als Notwendigkeit empfunden (z.B. Surrealismus in der Malerei, etwa bei Max Ernst u.a.). In der Musik entstand der Neoklassizismus: Pulcinella von Strawinsky entstand 1920, Prokofjews Klassische Sinfonie in den Jahren 1916 bis 1917.

 

Hier zu hören

 

Hörbegleiter:

 

Satz 1 (Allegro molto)

Wie eine Erinnerung an das Violinkonzert von Mendelssohn beginnt das Konzert  - nach einem kurzen Takt Begleitung – ohne Orchestervorspiel gleich mit der Geige und einer schwungvollen e-moll-Melodie. Dieses klassische Thema stamme von Cherubini, sagte Reznicek selber. Der darunterliegende gezupfte Bass nimmt uns mit und führt uns an Kulminationspunkte, an denen sich die Geige virtuos zu präsentieren weiss. Nach einigen virtuosen Läufen der Geige und Forte-Einwürfen des Orchesters fliesst die Mendelssohn-Stimmung hinüber in harmonisch neue Regionen und franst mit ihrem Anfangsmotiv durchführungsmässig immer mehr aus. Nach erneuten entschiedenen Orchesterschlägen folgt als zweites Thema ein lockeres H-Dur-Marschthema, das sich immer mehr in durchführungsähnliche chromatische Untermotive verliert, ein Orchester ruft zweimal zum H-Dur Thema zurück. Doch es kommt ohne grosse Durchführung oder Kadenz die Reprise des Cherubini-Themas und seines Motiv-Gefolges, abgelöst etwas später vom markanten zweiten H-Dur-Thema. Alles mündet in eine virtuose Kadenz der Geige, sanft kommt wieder das Orchester dazu, nochmals kommt das Cherubini-Thema, das sich weiter verflüchtigt und hinführt in einen immer sanfteren, spätromantisch weitgespannten und sphärisch klingenden Tranquillo-Schlussteil. Zarte Flötengirlanden und Geigengesang in höchsten Regionen bilden die weitgespannte Attacca-Überleitung zu einem mit «espressivo» bezeichneten neuen Satz. 

Satz 2 (Andante espressivo – Adagio – Andante espressivo)

Diese langgezogene wunderschön spätromantische Melodie gibt den Solist:innen beste Gelegenheit, auf der G-Saite mit einem schönen geschmackvollen Vibrato ihre sehnsuchtsvollen Gefühle vorzuführen und bei den Hörenden vermittelnd auszulösen. Die Bläser antworten dem Gesang, die tiefen Celli klingen fast wagnerianisch verklärt, Holzbläser und das Horn singen die Melodie mit. In einem Mittelteil erklimmt die Geige wieder und wieder die Höhen ihrer Spitzentöne. Die Anfangsmelodie mit ihrem romantischen Auftakt kommt wieder, eine Nachtmusik, zauberhaft romantisch bis zum schönst möglichen Verklingen.

Satz 3 (Allegretto con commodo, capriccioso)

Ein tänzerisches 3/8 Thema, walzermässig wie von einem Stehgeiger erfunden, eröffnet den Schlusssatz, formal der Tradition und dem Typ der klassischen Violinkonzerte folgend, allerdings auf eigene Weise burlesk und farbig, in allen Registern des Orchesters brillierend und der Geige Gelegenheit gebend, den Tanz anzuführen. Dann folgt ein dunkles zweites, Csardas-ähnliches Thema in der tiefen Geige, das sich sehnsuchtsvoll immer mehr aufhellt, Hornklänge erinnern an den zweiten Satz, die Geige steigt in immer himmlischere Regionen…  Geige und hohe Flöten verschmelzen klanglich in gemeinsamem Spiel. Dann wird das Tempo wieder angezogen, wie in einem Rezitativ führt die Geige zurück zum beschwingten 3/8-Thema, das Orchester übernimmt das Thema und schwungvoll geht es weiter. Etwas später klingt auch das Csardas-Thema wieder an, begleitet von Flöteneinwürfen, die Assoziationen an Vogelstimmen wecken können. Morgendlich frisch klingt alles, verspielt und in romantisch ironisch-burleske Regionen abschweifend; ein Horn ruft, die Musik steigt wieder in die höchsten feinen Flöten-Geigen-Klänge hoch, gleichsam, um Schönberg zu zitieren, "Luft von anderen Planeten" zu fühlen.

Bald belebt sich das Orchester wieder, die Geige erhöht das Tempo, wir werden zurückgeführt in Walzer-Stimmung, die Celli und Fagotte singen im Einklang wienerische Weisen, die Geige beschleunigt weiter und scheint zu einem lockeren Schluss zu führen, aber da trübt die Stimmung kurz vor Schluss nochmals, und eine Coda beschliesst kurz und schlüssig diese exaltiert und burlesk ihren Weg suchende Welt der damaligen 20er Jahre.

 

 


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