Wladimir Vogel: Konzert für Violine und Orchester (1937); zweite Fassung 1940

Beginn des 3. Satzes
Beginn des 3. Satzes

 

Wladimir Rudolfowitsch Vogel

geboren 29. Februar 1896 in Moskau

gestorben 19. Juni 1984 in Zürich

 

Uraufführung:

1938 durch Suzanne Suter-Sapin in Brüssel (Erstfassung)

1945 durch Sandor Vègh in Genf (Zweitfassung)

 

Aufnahmen:

Andrej Lütschg 1975 (auf LP)

Bettina Boller 2000 (auf CD)


Nicht nur unbekannt, sondern nahezu schon vergessen ist ein Violinkonzert, das zu den ersten radikal modernen Violinkonzerten der Musikgeschichte gezählt werden kann, nämlich Wladimir Vogels Violinkonzert aus dem Jahr 1937.  Nach einer Zeit des Experimentierens entstand das moderne, sich von der Spätromantik ablösende Violinkonzert Wladimir Vogels Anfang der 30er Jahre. Zahlreiche Violinkonzerte, die heute zur klassischen Moderne zählen, entstanden in dieser Zeit: so die Violinkonzerte von Igor Strawinsky (1931), Alban Berg (1935), Arnold Schönberg (1936), Sergej Prokofjew (1937), Béla Bartók (1938), Benjamin Britten (1938/39), Paul Hindemith (1939) und Karl Amadeus Hartmann (1939). In dieser Zeit suchte auch der aus Nazi Deutschland über Strassburg, Paris und Brüssel schliesslich in die Schweiz flüchtende Wladimir Vogel nach neuen Wegen, ein Violinkonzert für eine neue Epoche und eine neue Hörerschaft zu komponieren. Von seinem Lehrer Feruccio Busoni beeinflusst und dem deutschen Expressionismus verbunden, suchte er wie Hans Eisler nach Wegen, die Zwölftonmusik Schönbergs im Geiste der antifaschistischen sozialistischen Arbeiterbewegung für die Zukunft fruchtbar werden zu lassen. Er hat in diesem Zusammenhang speziell auch eine die Musik bereichernde Art des chorischen Sprechgesangs erfunden.

1936 erhielt er den Auftrag, für die Geigerin Suzanne Suter-Sapin ein Violinkonzert zu komponieren. Man  einigte sich auf einen Preis von Fr. 3000.-. Abgeschlossen hat Wladimir Vogel das Violinkonzert im Spätsommer 1937. Zur Aufführung gelangte es erst am 16. 11. 1938 in Brüssel. 1940 überarbeitet Vogel sein Violinkonzert zu einer zweiten Fassung, die 1945 von Sandor Vegh in Genf uraufgeführt wurde. Das Konzert erhielt begeistertes Echo von der Musikkritik, und zahlreiche berühmte Dirigenten (Erich Schmid, Räto Tschupp, Hermann Scherchen, Paul Klecki u.a.)  führten es mit dem Geiger Andrej Lütschg in den 1960er und 1970er Jahren öfters wieder auf. (Vgl. die Aufführungsliste in der grundlegenden Dissertation von Christoph Kloidt über «Wladimir Vogels ‘Concerto pour violon et orchestre’», Februar 1998, s. 73).

 

Die zweite als definitiv anzusehende Fassung wurde 1975 vom Geiger Andrej Lütschg auch auf LP eingespielt und 2000 erschien eine CD mit der Geigerin Bettina Boller. Eine Partitur ist noch heute schwierig zu bekommen, der Standort der musikalischen Quellen ist die Zentralbibliothek Zürich, die seit 1978 die Schenkung und den Nachlass Wladimir Vogels verwaltet. 

 

Das viersätzig angelegte Werk ist formal zugleich dreisätzig, weil Satz 3 und 4 eine gewisse Einheit bilden. Die ersten beiden Sätze sind zudem noch freitonal komponiert, während Satz 3 und 4 die Zwölftontechnik in einer eigener Form verwenden. Dabei gibt es Elemente in den ersten Sätzen, die bereits Elemente des Reihenprinzips vorausnehmen. Doch ist laut dem Musikwissenschaftler Christoph Kloidt gerade «die Einheitlichkeit des Gesamtwerkes ein wesentliches Merkmal».

 

Eine Einführung in den Gehalt seines rund 40 Minuten dauernden Violinkonzertes schrieb Wladimir Vogel für die Schallplattenaufnahme 1975 selbst: «Der Concerto-Form verpflichtet, verkörpert das Violinkonzert eine Synthese von Virtuosität und konzertantem Musizieren, wobei dem Orchester eine wichtige Rolle zukommt, nicht nur eine konventionelle Begleitung. Dies verlangt von Solisten, Dirigenten und Orchester fast den gleichen Beitrag in der Ausdeutung der Musik. Der Titel des Werkes könnte also ebenso gut ‘Konzert für Violine und für Orchester’ heissen. Neben diesen allgemeinen Feststellungen ist auf die Konzeption des Stückes hinzuweisen. Den vier Sätzen mit ihren vier Charakteren entsprechen auch vier Erscheinungsformen: das Repräsentiativ-Dynamische des ersten Satzes mit seiner gehobenen, fast klassizistischen Haltung; das Lyrisch-Romantische des zweiten; das Humorvolle des Scherzo und das Doppelsinnig-Turbulente des Finale. Doch das Verbindende und das Einheitliche werden durch das allen Sätzen gemeinsame Prinzip des Konstruktiven als einer kompositorischen Technik erreicht.»

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Hörbegleiter:

Satz 1: Introduction, Cadenza. Allegro non troppo e deciso

Die «Konstruktion» des ersten Satzes ist formal in verschiedene Blöcke unterteilt, die eine Sonatensatzform nur noch gebrochen erahnen lässt. So beginnt der Satz ganz ungewohnt, aber nicht unpassend für ein Violinkonzert, gleich mit einer Kadenz der Sologeige. Das Orchester begleitet mit einem ostinaten Motiv, das noch mehrmals im Verlauf des ganzen Konzerts wahrnehmbar sein wird. Die Geige spielt 7mal hintereinander aufwärtsgreifende Kadenz-Arabesken. Nach einem einen Fanfarenstoss des Orchesters, folgen weitere Arabesken, eher nach unten tendierend. Dann nochmals ein Fanfarenstoss, ein Paukenwirbel, und es beginnt allegro ma non troppo e deciso ein tänzerisches, gigueartiges und leichtfüssiges, fast mechanisches Thema, zuerst aufwärts, dann abwärts tendierend. Die Geige und die verschiedenen Orchesterstimmen, angeführt von Trompeten, geben sich wie in einem Staffellauf oder gar wie auf einem Fliessband die musikalischen Gedanken weiter, nach Vogel «ein Ausdruck für das präzis funktionierende und aufeinander abgestimmte Spiel der Kräfte unserer modernen Zeit». Am Ende dieses Blockes erklingt eine entschieden markierende ff-Fanfare.

 

Kurze Generalpause. Die mechanistische Routine-Bewegung geht eine grosse Sekunde tiefer weiter – etwas alltäglicher und ruhiger. Wieder steht die Geige im Austausch mit den anderen Instrumenten des Orchesters (tiefe Bläser, dann tiefe Streicher). Die Abschlussfanfare spielt jetzt nur die Violine allein mit der Unterstützung von Pauke und Becken.

 

Ein dritter Block folgt, mit immer den gleichen Musikmotiven in eintöniger Mechanik, allerdings zeigen sich die einzelnen Klanggruppen von der Sologeige bis zu den Bläsern individueller, und lassen Ermüdung spüren. Zum Abschluss wieder Fanfare des gesamten Orchesters.

 

Nach einem Paukenwirbel folgt überraschend ein feierlich anmutender choralartiger Blechbläserabschnitt, der von den Streichern übernommen wird. Der gigueartige punktierte Rhythmus setzt sich aber bald wieder durch. Sowohl die Sologeige wie auch das Orchester aber werden energischer, alles tendiert in heftiger Mechanik immer mehr auf einen gemeinsamen Höhepunkt zu, der dann überraschenderweise mit der Wiederkehr der Arabesken-Kadenz der Geige und dem Ostinatomotiv des Orchesters erreicht wird und einen offenen Abschluss einer einheitlichen Konstruktion bildet.

Satz 2: Lento

 

Wie im ersten Satz eröffnet die Solovioline diesen ungefähr 17 Minuten dauernden lyrisch-romantischen Satz mit einer Kadenz allein, sogar ohne Orchesterbegleitung, und auffällig mit mehrmaligen Glissandi. Die Geige lässt sich Zeit, sich in diese neue lyrische Stimmung einzustimmen und entwickelt aus anfänglicher Ungewissheit heraus die melodischen und atonalen Grundelemente des Satzes. Zum Ende der langgezogenen Kadenz präsentieren dann die Streicher das im Solo bereits angeklungene Thema in seiner Vollgestalt. Holzbläser übernehmen das Thema und entwickeln es fantasievoll weiter. Darauf bringt die Klarinette ein zweites kantables Thema, von der Sologeige rhythmisch begleitet. Nach einem kurzen Violinsolo-Zwischenspiel folgt nochmals auf der Klarinette, von Flöte und Oboe kontrapunktiert, ein drittes Thema, eine ruhig abwärtsfliessende Melodie. In einem nächsten Abschnitt greifen die Streicher das Thema des Anfangs wieder auf. Über unruhigem Orchester greift die Sologeige das abwärtsfliessende dritte Thema solistisch auf. Immer mehr werden die drei Themen miteinander kontrapunktisch verknüpft, ohne dass der lyrisch romantische Grundton dieses Gesangs getrübt würde. Der lange Weg dieses gemeinsamen freitonalen Singens von Orchester und Sologeige führt zurück zum Thema des Anfangs, gespielt von der Sologeige. In leisem Klangfeld endet dieser fast etwas nostalgisch in die Vergangenheit zurückblickende Satz und überlässt das Feld jetzt attacca im nächsten Satz einer neuen optimistischen Zukunftsvision.

Satz 3: Scherzando

 

Erneut, dieses Mal «scherzando», eröffnet die Solo-Geige den Satz. Rhythmisch originell macht die Geige eine veritable Zwölftonreihe gleich zu Beginn zum melodischen Hauptthema dieses kurzen Scherzos, erweitert mit 12 weiteren Tönen der Reihe in der Krebsform zu einer 24 Töne umfassenden linearen Melodie. Zwölftonmusik in verständlicher Form wird zum Programm der letzten zwei Sätze dieses programmatisch für die Zukunft der Musik geschriebenen Violinkonzerts. Sogleich übernehmen auch Flöte, Klarinette, Oboe und Fagott nacheinander im Kanon das Thema in seiner zwölftönigen Grundgestalt und danach in der Krebsform. Das Ganze ist linear durchhörbar, eine Art neue Polyphonie löst die alte ab - Anlass zu heiterer und freudiger Zukunftsmusik.

 

Mit dem Einsatz von Becken und Pauken setzt ein zweiter Teil dieses Scherzos ein, Kontrabass, Fagott und Cello, Bratschen und Violinen eröffnen wieder im Nacheinander einen neuen polyphonen Abschnitt, der zwölftontechnisch von Umkehrung und Krebsumkehrung des Themas bestimmt ist. Danach setzt auch die Sologeige wieder mit ein und in gemeinsamem Dialog steigert sich das heitere Zusammenspiel der Instrumente.

 

Neu belebt die Sologeige das Spiel mit dem Einsatz von wilden 32stel Figuren. Eine Fortissimo-Blechbläserpartie erinnert kurz an den Choralteil des ersten Satzes und bricht auf einem Höhepunkt brüsk ab. Keck und fast etwas witzig greift die Sologeige den Anfang des Satzes zusammen mit der Oboe wieder auf, allerdings in der Umkehrung statt in der Grundgestalt. Die Geigen folgen im Pizzicato, die kleine Trommel nimmt den Rhythmus auf und verstummt.


Satz 4: Finale in modo die Mozart

Attacca folgt mit einer Überraschung der kürzeste Satz des Konzertes (bloss ca. 3 ½ Minuten). Die Überraschung: Die Sologeige eröffnet den Satz mit einem Zitat aus Mozarts Zauberflöten-Ouvertüre, sofort erkennbar, aber eigentlich umgeformt in eine Zwölftonreihe und gefolgt von deren Krebsform, eine Art schockhaft ergötzendes «unerwartetes Vexier-Hörbild». Das Typische dieses Finalsatzes sei «die Applikation der im vorhergehenden Scherzosatz verwendeten Zwölftonreihe an das Modell der ‘Zauberflöten’-Ouvertüre» (Wladimir Vogel, Schriften und Aufzeichnungen s. 129). Und wirklich folgen auch hier gleich anschliessend kanonartig Streichinstrumente mit verschiedenen Transpositionsstufen des Themas. Dann setzt die Solovioline mit der Umkehrung des Themas ein. Danach verteilt Vogel das Thema auf verschiedene Instrumente.

 

Einen neuen Abschnitt markieren dann wie im Scherzo wieder die 32stel-Figuren der Sologeige. Erneut konzertieren alle Stimmen des Orchesters miteinander in einer Art neuen Polyphonie in wohlklingender Zwölftontechnik.

 

Ein Presto-Schlussabschnitt steigert das Tempo, es herrscht allgemeine Einigkeit auf den Schluss hin. Da erklingt nochmals markant die feierliche Blechbläserpassage und führt hin zu einem ereignisgrossen utopischen Schlussklang dieses programmatischen Zukunfts-Violinkonzertes.

 

 


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