Carl Reinecke: Violinkonzert g-moll op 141 (1876)

Beginn des zweiten Satzes (Lento)
Beginn des zweiten Satzes (Lento)

 

 

 

Carl Reinecke

geboren 23. Juni 1824 in Altona
gestorben 10. März 1910 in Leipzig

 

Uraufführung:

21. Dez. 1876 in Leipzig durch den Geiger Joseph Joachim

 

CD-Aufnahme:

Ingolf Turban 2004


Es weckt nicht gerade Interesse für einen Komponisten, wenn er, wie Carl Reinecke, von sich sagt: er wolle «nicht dagegen opponieren, wenn man mich einen Epigonen nennt». Auch war er gegen Ende seines langen Lebens überzeugt, dass seine Werke kaum überleben werden. Und das sagt einer, der mehr als 300 Kompositionen in allen Musikgattungen mit rauschhafter Energie komponiert hat. Leistung und Selbstbewusstsein stimmen da nicht überein. Denn als Pianist und als Dirigent machte er Karriere. Er hatte hochangesehene Stellungen inne: als Leiter des Gewandhausorchesters und als Kompositionslehrer und später Direktor des Konservatoriums in Leipzig. Gross ist die Liste seiner Schülerinnen und Schüler, doch kränkte ihn die nach 35 Jahren erfolgte Entlassung als Chefdirigent des Gewandhausorchesters. Er wurde durch einen jüngeren, durch Arthur Nikisch ersetzt.

Unglücklich erging es ihm auch mit seinem Violinkonzert g-moll. Die Uraufführung spielte zwar Joseph Joachim am 21. Dezember 1876, doch übernahm es Joachim nicht in sein Repertoire, wahrscheinlich weil er schon bald in die Vorbereitung von Brahms Violinkonzert (1976-78) miteingebunden war. Und Brahms Violinkonzert brachte eine neue Dimension in die Gattung Violinkonzerte, und Reineckes Konzert wurde nicht mehr gespielt, weil alle anderen Geiger das Werk mieden, weil als im Besitz von Joseph Joachim war. Joachim aber spielte und propagierte jetzt nach dessen Uraufführung 1878 überall sein Brahmskonzert. Erst heute hat Reineckes Violinkonzert wieder eine Chance, gehört zu werden, wenigstens zunächst einmal auf Tonträgern. Das Konzert gehört denn auch zur Tradition der klassisch romantischen Geigenkonzerte von Mendelssohn (Uraufführung: 1845), Schumann (1853 entstanden, UA: 1937), Bruch (Uraufführung: 1866), Dietrich (Uraufführung: 1876). So epigonenhaft ist Reineckes Violinkonzert (1878) also gar nicht. Aber wie auch immer: Dass weder Vergessenheit noch Epigonentum einen abhalten sollte, die Qualität dieses Konzertes zu würdigen und sich in seine romantische Melodie- und Klangwelt hinein zu spüren, das vermittelte mir der Booklet-Text der CPO-Aufnahme von Matthias Wiegandt, dessen Text ich im Hörbegleiter ausschnittweise gerne übernehme, weil ich dieses Konzert für sehr hörenswert empfinde und es nicht besser beschreiben könnte.

Hier zu hören!

Hörbegleiter:

Satz 1: Allegro moderato

 

«Reinecke setzt im gesamten Konzert auf melodisch prägnante Themen, ohne es auf gesucht hübsche Einfälle anzulegen. Das kompakte Eingangstutti des Kopfsatzes exponiert da Hauptthema (g-moll) und treibt es einem ersten Kulminationspunkt zu. In den dynamischen Abschwung des Orchesters klinkt sich der Solist mit dem Themenkopf ein und bringt den Hauptgedanken zu voller Entfaltung. Nach einem kurzen Übergang etabliert er ein neues Thema (B-Dur). Zu den für Reinecke typischen Eigenschaften gehören die vielen Umspielungen der melodischen Hauptstufen, weshalb so manche Phrase erst nach delikaten Ausweichmanövern zu ihrem Zielton gelangt.

 

Das Mitteltutti bedient sich beider Themen und lässt auf dem dynamischen Höhepunkt das Hauptthema in triumphalem Dur hervorbrechen. Wieder kann der Solist die rasch erfolgende Rücknahme als Rampe für seinen Einsatz nutzen und die lyrischen Reize des nach Dur gewendeten Themas zu Gehör bringen. Die Reprise wird nach einer imposanten Steigerung erreicht, vergleichbar mit einer analogen Passage in Bruchs g-Moll-Konzert. Den kraftvollsten Moment reserviert Reinecke für die Anbahnung der Kadenz, wo das Orchester im dreifachen Forte dröhnt, den Übergang jedoch mit einer pizzicato-Version des Hauptthemenkopfes vollzieht (Ingold Turban spielt diesen Takt zusätzlich als solistisches Echo).» (Booklet-Text von Matthias Wiegandt)

Satz 2: Lento

 

Im ruhigen Mischklang von Klarinette und Orchesterviolinen beginnt im wiegenden 9/8tel Takt eine Gesangsszene, deren eingängiges romantisches H-Dur-Liedthema sofort auch von der Oboe mitgesungen wird, bevor die Sologeige dann dieses Lied ohne Worte zu ihrem Thema macht. Die romantische Stimmung wird vom Horngesang vertieft, während die Sologeige das Thema in allen Lagen, variierend und im Austausch mit dem Orchester weitersingt.

 

Dann ein Harmoniewechsel: leichte geheimnisvolle Verdunkelung. Die Oboe stimmt eine Quint tiefer das Lied erneut an, die Sologeige improvisiert dazu ihre Umspielungen und leitet zu einem Klarinettensolo «con gran espressione» über. Neue Klangfarben für die immer selbe Lento-Liedmelodie!

 

Dann bringt ein Tutti des Orchesters einen leidenschaftlichen Aufschwung und neue Impulse in diese Gesangsszene, doch das Liedthema lässt sich nicht verdrängen. Es taucht immer wieder neu auf. Sich aussingend ruft es romantische Gefühle und Stimmungen hervor, die weiterklingen über diesen Satz hinaus bis hin zum Schlusssatz und danach… oder in Felix Mendelssohns Worten: es ist «Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten». (Brief an Marc-André Souchay vom 15. Oktober 1842) (Text: TB)

Satz 3: Finale. Moderato con grazia

“Das Finale hingegen wird zum Schauplatz einer wirkungsvollen Dramaturgie. Zu Beginn übernimmt Reinecke die seit Beethoven vertraute Idee, die Tonart des langsamen Satzes nachwehen zu lassen, ehe zur neuen Tonika G-Dur moduliert und das Refrainmaterial ausgebreitet wird. Das Orchester verbreitet ein wenig Bühnennebel, spielt mit Konfliktmöglichkeiten, an dieser Stelle unvermutet. Als die Finte spürbar wird, weichen die Schatten einem mustergültigen Rondo-Thema des Soloinstruments. Mehr als zwei Minuten spielen Solist und Orchester mit diesem Einfall, ehe es Zeit wird für ein erstes Couplet. Doch was nun anhebt, überragt diese Funktion. Die effektvollen Register- und Charakterwechsel der Solovioline sind lesbar als innerer Monolog einer Bühnenfigur, die zwischen Selbstzweifel und Emphase schwankt. Naheliegender noch erscheint die Vorstellung eines episch vermittelten Dialogs. Zuerst lässt sich eine pessimistische Stimme in Moll vernehmen, deren Melodielinie abwärts zeigt und eine von Reineckes seltenen ‘grandioso’ Vorgaben umsetzt. Dem Schwelgen am Abgrund antwortet eine optimistische Diskantstimme mit der Dur-Version der Kantilene. Die anschliessende Evolution des Themas verbleibt im Schwebezustand zwischen Zweifel und Beschwichtigung.

 

Der Wiederkehr des Refrains folgt ein dramaturgischer Ausfallschritt. An die Stelle des erwarteten zweiten Couplets tritt der Rückgriff auf den Hauptgedanken des Lento-Satzes. Nunmehr ins Taktgefüge des Finales eingemeindet, präsentiert er neue, bewegte Facetten seiner schönen Identität. Doch scheint die Solovioline nach der Reprise des Refrains und des abgewandelten Dialogmaterials endlich zu begreifen, wie gering der Anteil extrovertierter Spielepisoden innerhalb des Satzes ist. Prompt setzt sie zu einer Schlusssteigerung an. Ihre Willensschwäche ist jedoch daran abzulesen, dass sie sich vom Orchester umgehend dazu verführen lässt, das anklingende Lento-Thema aufzugreifen. Irgendwann ist jedoch auch das letzte retardierende Element zum Einsatz gekommen, weshalb sich die Beteiligten einen Ruck geben und den angemessen pompösen Abschluss herbeiführen.» (Booklet-Text von Matthias Wiegandt)


www.unbekannte-violinkonzerte.jimdofree.com

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