Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 4 op. 36 Nr. 3 (Violinkonzert) für Solovioline und grösseres Kammerorchester

Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 4, Satz 3 Nachtstück (Beginn)
Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 4, Satz 3 Nachtstück (Beginn)

Paul Hindemith

geboren 16. Nov 1895 in Hanau (D),

gestorben 28. Dez. in Frankfurt am Main

 

Uraufführung

1925 in Dessau durch Licco Amar

 

Aufnahmen:

Peter Rybar 1951
Konstanty Kulka 1990
Kolja Blacher 1996
Frank-Peter Zimmermann 2018 (live)
Stephen Waarts 2019


Dass eines der originellsten Violinkonzerte der Zeit nach dem menschlichen Desaster des Ersten Weltkrieges und damit eines der radikalsten Konzerte des musikalischen Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus heute in Vergessenheit geraten ist, ist wohl auch der eigenartigen Rezeptionsgeschichte des Komponisten Paul Hindemith zuzuschreiben, der wohl zu Unrecht nach provokativem Beginn wegen seines Spätwerks immer mehr zu einer Nebenfigur des Musiklebens wurde.

 

Gemeint ist Hindemiths «Kammermusik Nr. 4 op. 36 Nr. 3 (Violinkonzert) für Solovioline und grösseres Kammerorchester» aus dem Jahre 1925. Sie gehört zu einer Serie von 6 Kammermusiken, die heute in Zeiten des Krieges und deren desaströsen Folgen eine geistige Warnung höchster Güte sein kann. Auch wenn man sich einem musikalischen Kunstwerk in erster Linie über seine fixierte Vorlage nähert, nämlich der Partitur, entsteht der ästhetische Mehrwert und geistige Gewinn einerseits durch eine kreative Vergegenwärtigung durch die Interpretation, andererseits aber auch durch die kontextbezogene bewusste Hörhaltung der Hörenden und deren Hörinteressen.

 

Angesichts von aktuellen Kriegsgefahren ist es von Interesse, was nach dem Ersten Weltkrieg künstlerisch geschah: Zurück aus dem Krieg musste für betroffene Künstler alles anders werden. Das romantische Kunstverständnis, die Musik, der Konzertbetrieb, die Orchesterbesetzung, Form und Gehalt und jegliche künstlerische Gestaltung waren radikal in Frage gestellt. Zufall sollte herrschen, nichts sollte sein wie vorher, kein Eindruck von Sinn und höheren Prinzipien, höchstens als Karikatur oder Provokation.  In der Kammermusik 1 von Hindemith ersetzte ein Schlager und Foxtrot den sinfonischen Schlusssatz, Chaos und Kriegssinnlosigkeit wirkten auch musikalisch destabilisierend.

 

Was bedeutet in solch einer Situation dann noch Kunst und Komponieren? Eine Frage, die Hindemith nach spontan-provozierendem Beginn in seinem späteren Werk immer mehr nach neu ordnenden Prinzipien der Musik suchen liess.

 

Der neugeformte Begriff seiner Werke aus den 1920 Jahren «Kammermusiken» weist bewusst auf eine kleine und zudem eine ungewohnt unromantische Instrumenten-Besetzung hin. In Kammermusik Nr. 4 werden die symphonischen Geigen weggelassen, nur 4 Bratschen, die tiefen Streicher und die Solo-Geige stehen einem stark besetzten Bläserinstrumentarium gegenüber, was zu ungewohnten Klangmischungen geradezu einlädt.  2 kleine Flöten, 2 Klarinetten samt Bassklarinette, ein Kornet, Posaune, Basstuba und 2 Fagotte samt Kontrafagott (insgesamt 24 Spielende) ermöglichen schon im Prinzip schockierende Zusammenklänge, und dies in einem Violinkonzert mit Solo-Violine. Denn obwohl fünfsätzig angelegt, erinnert eine übergreifende dreiteilige Form an die klassische Konzertform Schnell – Langsam – Schnell. Dabei scheint dem 3. Satz, Nachtstück genannt (Gibt es einen begrifflichen Bezug zu den Nachtstücken in Mahlers 7. Sinfonie?), eine Sonderstellung zuzukommen, denn Hindemith lässt die Sätze 1+2 sowie 4+5 attacca ineinander übergehen und hebt dadurch das Nachtstück ausdrücklich zur besonderen Beachtung hervor.

 

Hindemith schrieb das Werk für Licco Amar, den Leiter des Streichquartetts, in dem Hindemith von 1922 bis 1929 Bratsche spielte. Amar spielte im September 1925 in Dessau die Uraufführung.

 

Hier zu hören!

 

Hörbegleiter:

 

Satz 1: Signal – Breite, majestätische Halbe

Holzbläser und Basstuba eröffnen breit stampfend einen unheimlichen Marsch, dessen Rhythmus schrill von hohen Klarinetten und Flöten übernommen wird. In der Tiefe posaunt dissonant und a-rhythmisch eine Posaune dazwischen.

«Stark und frei» tritt dann nicht, wie zu erwarten wäre, die Solo-Geige auf, sondern ein Kornett, das ein energisches Signal ertönen lässt (Kornett = trompetenähnliches kleines Horn mit Ventilen, auch cornet à Piston genannt, aus dem Posthorn entstanden, früh auch im Jazz verwendet). Im Unterschied zu den provokant dissonant klingenden Akkorden des Kammerorchesters verbleibt das Signal des Kornett-Geschmetters innerhalb der gewohnten Dreiklangbrechungen. Plötzlich tritt in den tiefen Streichern Ruhe ein, war da etwas? Ein Signal wofür? Oder wogegen? Klarinetten treten dazu, der unheimliche Rhythmus verstärkt sich, bis Posaune und schliesslich das Kornett wieder mit dem kriegerischen Signal auftritt und tumultuös zum nächsten Satz überleitet…

 

 

Satz 2: Sehr lebhaft

 

...Attacca stürmt die Sologeige nach einem B-Dur-Eröffnungsakkord des Orchesters mit wilden Doppelgriffpassagen los und erinnert an barocke Formate, wo die Geigen nach einer langsamen Einleitung ebenfalls «sehr lebhaft» mit ihrem Allegro beginnen. Die angriffigen dissonanten Läufe der Geige münden in ein rhythmisch punktiertes, über Terz und Quart aufsteigendes Thema, das dann ähnlich wie Fugeneintritte von den Bassinstrumenten wiederholt wird. Diese begleiten subkutan das weitere Voranstürmen der entfesselten Sologeige, bis das Orchester nach einem gemeinsamen Absturz kurz einhält und dem Kornett den Platz für ein breites signalartiges Dreiton-Motiv überlässt. Die Geige übernimmt das Drei-Ton-Motiv und träumt es in eine geigerische Melodie hinein weiter. Wie zu Beginn eröffnet das Lösstürmen der Sologeige den B-Teil dieses Satzes, wieder setzen fugenartig Thema und Motiv ein und bestimmen zusammen mit der unermüdlichen Geige durchführungsartig das Geschehen. Doch die Energie des Anfangs verliert sich, das musikalische Geschehen wird ruhiger und führt schliesslich zu einer Insel unruhiger Ruhe, in der die Violine über dunklen, zweideutigen Akkorden in den Holzbläsern legato sinniert. Diese Ruhezone klingt in fast nostalgischer Klarinettenschönheit aus, bis der energische Auftritt des ersten Themas in Geige und Bläsern allem ein Ende setzt. Noch ein Solo der Geige, ein Pizzicato der Streicher, ein heftiger Schlag und kurzes Ausklingen, jetzt auf D.

 

Satz 3: Nachtstück. Mässig schnelle Achtel

Nach den beiden ersten Sätzen sind Interpret und Hörer auf das Herzstück dieser Kammermusik vorbereitet, auf den Versuch einer neuen herberen Art von besinnlicher Musik, auf eine Nachtmusik, die nach allem Schrecken der Zeit zur Ruhe kommen lässt. Im Pianissimo der B-Klarinette taucht der Anklang einer stillen Nachtstimmung in C auf, die Bratschen wiederholen und überlassen der Solo-Geige die melodische Führung, die zur Hauptmelodie in einer D und C vermittelnden Cis-Tonalität hinzielt. Nur noch von den tiefen sondierten Streichern begleitet steigt diese Melodie in grosser Ruhe hoch und beginnt einen abwärtssinkenden, berührenden Lamento-Gesang, als ob sie zugleich Trauer und Verzweiflung verarbeiten wollte, ähnlich wie das in manchen zeitgleich entstandenen expressionistischen Zeichnungen und Gemälden damals ebenfalls geschah. 

Im B-Teil verwandelt dann der Holzbläserchor die Atmosphäre in eine Art stockenden Staccato-Cantus firmus, um den die Geige ihre Meditation webt. Ein Cello fügt sich zur Meditation der hoch emporsteigenden Geige hinzu. Zurück zum Anfangszeitmass übernimmt die Bassklarinette den Lamento-Gesang, und die Geige umkreist mit ihren unruhigen Figurationen Trauer und Verzweiflung. Erst am Schluss findet die Geige «ein wenig ruhiger» zu ihrer inneren Lamento-Ruhe zurück und lässt diese Nachtmusik, das Herzstück dieser Kammermusik, pianissimo ausklingen.

 


Satz 4: Lebhafte Viertel

In starkem Kontrast zur Atmosphäre des eben verklungenen Nachtstücks markiert das Kornett, wieder in B, ein Thema (in Form eines im ¾ Takt notierten Marsches), das stilmässig aus Strawinskis «L’histoire du soldat» stammen könnte, wäre da nicht der reale Kriegskontext, der aus dem Märchenkontext herausführt. Klarinetten übernehmen den Marsch, begleitet vom Durcheinander der andern Instrumente.

Erst unmerklich und nach diversen Themeneinsätzen mischt sich auch die Geige ein und marschiert mit. In immer wahnsinnigerer linearer Polyphonie steigert sich das Geschehen in ein Chaos, das erst durch ein Solo-Duett von Geige und Drums (wie in einer Jazzband) unterbrochen wird. Eine tiefe Tuba, hohe Flöten und eine gestopfte Posaune treten dazu. Die Geige, mitgerissen vom ständigen Vorwärtssog, steigert sich in immer virtuoseres Spiel.

Eine Art Reprise im zweiten Teil wird wieder vom Kornett angeführt und treibt alle erneut in Richtung einer Art Kadenz. Con sordino und immer leiser werdend starten Geige und die 4 Trommeln ein virtuoses Geigen-Solo-Zwischenspiel, das attacca («sofort weiter») in den direkt anschliessenden letzten Satz hinüberdriftet…

 

Satz 5: So schnell wie möglich

 … Ohne Unterbruch und pianissimo beschleunigt die Geige ihre Läufe «so schnell als möglich» in ein Wahnsinntempo. Leise Pizzikati der tiefen Streicher begleiten. Zwei kleine Flöten tupfen spitze Töne und Triller dazu. Der Satz wird zur Coda dieser Kammermusik. Die kleinen Flöten spielen zu schnellsten Geigenfigurationen In höchsten Tönen grelle Melodien, bis die Geige sie mit haarsträubenden Auf- und Runter-Läufen ablöst. Gedämpft tritt nochmals das Kornett auf, und die Flöten spielen ihre geisterhaften Melodien. Das Kornett trägt zur Beschleunigung bei. Schliesslich verlangt die Partitur, alles wie einen Walzer zu spielen, immer leiser zu werden und - bei eh schon so schnell wie möglichem Tempo - ein «Wenn möglich noch schneller» draufzulegen. Die Geige eilt, die Holzbläser und Streicher beschleunigen mit, das Kornett treibt an, bis es nicht mehr geht, bis zum leisen Verschwinden in D.

 

So endet diese Kammermusik nicht als vorgeformte Zeitstruktur sondern als offenes Ereignis, besser als eine Folge von diversen Ereignissen, die zufällig miteinander verbunden und doch deutbar und für Interpret und Hörende bedeutsam werden können.

 

 

 


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