Jean-Marie Leclair (l'aîné): Violinkonzert D-Dur op 10 Nr. 3

Concerto op 10 No 3 D-Dur: Andante
Concerto op 10 No 3 D-Dur: Andante

Jean-Marie Leclair (l'aîné)

geboren 10. Mai 1697 in Lyon,

gestorben 22. Okt. 1764 in Paris

 

Gedruckt und herausgegeben:

ca. 1745

 

CD-Aufnahmen:

Simon Standage 1995

Leila Schayegh 2019

Théotime Langlois de Swarte 2021


Jean-Marie Leclair (l'aîné), einer der bekanntesten französischen Barockkomponisten und Violinisten seiner Zeit, ist eng mit der italienischen Entwicklung des Geigenspiels verbunden. Obwohl er zuerst in Lyon als Tänzer auftrat, entschloss er sich danach, in Turin beim Corelli-Schüler Giovanni Battista Somis sein Geigenspiel zu vervollkommnen. Bald aber zog es ihn nach Paris. 1728 trat er dort erstmals während der Karwoche in den bekannten Concerts Spirituels auf und wurde zu einem der damals bekanntesten europäischen Violinvirtuosen seiner Zeit. Von dort unternahm er Reisen durch Europa, vor allem nach Holland. Dass Leclair dort auch mit Locatelli im geigentechnischen Austausch stand, ist wahrscheinlich, allerdings ist die bekannte Geigen-Duell-Geschichte von Kassel nicht belegbar, die Leclair gegen Locatelli auftreten liess. In einer Chronik eines Organisten aus Groningen, Jacob Wilhelm Lustig, steht: «Beide Geiger würden die Violine rauf und runter jagen wie die Hasen, der eine aber spiele dabei wie ein Engel, der andere dagegen wie ein Teufel. Der Erste, Leclair, mit seinem makellosen lieblichen Ton wisse, wie man Herzen stehle, während der Zweite, Locatelli, im Wesentlichen seine Geigentechnik zur Schau stelle und seine Zuhörer dabei mit seinem kratzigen Gespiele zu überraschen suche.»

 

Dass Leclair je in Kassel war, dafür gibt es keinen Beleg. Dass Leclairs Violinkonzerte allerdings Herzen stehlen können, hat seine eigene Wahrheit, die nur diejenigen bewahrheiten können, die mit geistiger Offenheit seine Geigensonaten und Geigenkonzerte anhören. Was dabei zu gewinnen ist, ist auch mit Etiquetten wie «französisch» oder «tänzerisch» oder «gemischter Stil» oder «Virtuositätsverzicht zugunsten Ausdruckskraft» nicht beschreibbar. Musik hat ihre eigene kommunikative Logik.

Hier zu hören!

Hörbegleiter:

 

Satz 1: Allegro moderato

Wie ein dreimaliges Anklopfen stellen sich drei Akkorde an den Anfang, die nach kurzem Weg- und Auslaufen gleich wiederholt werden und zum entscheidenden Motiv dieses Satzes werden. Dann aber verflüssigt sich das so streng begonnene Ritornell in synkopisch fliessende Bewegungen, die in einen tänzerischen Schlussaufstieg und in eine markierte Abschlusskadenz des Ritornells münden.

 

Im ersten Soloteil erscheint das Motiv in drei markanten Solo-Doppelgriffen der konzertierenden Geige und wird gleich von einem wilden D-Dur-Triolenlauf abgelöst. Gleich nochmals aber mischt sich das Motiv in drei Doppelgriffen dazwischen, bevor die Sologeige in harmonisch vagierenden Sechszehntelläufen ins Weite ausgreift.

 

Doch das Anklopf-Motiv in der Dominante ruft wieder zurück ins Ritornell, dreimal, auch das synkopische Fliessen und der tänzerische Aufstieg schliessen sich an, bis die Schlusskadenz des Orchesters wieder Platz für den zweiten Soloteil der Geige schafft.

 

Dieser neue Soloteil beginnt wie der erste mit dem zweimaligen Doppelgriff-Dreiermotiv, variiert es dann aber und verwickelt es in Läufe und Figurationen, bis das Motiv vergessen geht und die Figuren sich ganz in Weite auflösen und in höchste Höhen und Geigenklänge hinaufführen.

 

Zeit, dass das Ritornell wieder eingreift! Mit einiger harmonischer Mühe holt das Orchester die Geige wieder zum gewohnten Motivbe-stand zurück. Die Geige aber setzt endgültig zu freier virtuoser Ornamentik an, als hätte sie das Dreiermotiv vergessen und als ob sie sich im letzten Soloteil frei selbst verwirklichen wolle. Nach einer kurzen Adagio-Zwischenruhe geigt sie sich dann ausdrucksstark und beredt dem Ende zu, wobei das Ritornell des Orchesters sein formales Recht eingeräumt bekommt und so, ohne auf dem Dreier-Motiv zu beharren, den Schluss bildet.

 

 

 

Satz 2: Andante

Was jetzt folgt, könnte einem wirklich «das Herz stehlen». Schon der wunderbare Beginn - 3 einleitende Achtelschläge leise Begleitung, dann ein Achtel Auftakt, gefolgt von 2 je mit Aufschlägen versehenen Achtelnoten, die zu einer traumhaften Melodie werden - kann einem den Atem nehmen. Und wie die Melodie sich Sequenz um Sequenz weiterverwandelt. Eigentlich kann man diesem Geigengesang nur innerlich mitbewegt nachfolgen, lauschend jeder Verzierung und jeder Wendung. Zum Glück werden Teil 1 und Teil 2 dieses «unendlichen» Singens je wiederholt, sodass man mehr als 5 Minuten offenen Herzens lauschen und weiter lauschen kann.

 

Satz 3: Allegro ma non troppo

Nach diesem Blick in andere Sphären holt uns das einleitende Ritornello des letzten Satzes zurück in einen geordneten tänzerischen 9/8 Takt, so wie damalige «Engel» und die französische Hofgesellschaft seinerzeit wohl getanzt hatten. Es beginnt wohlgeordnet, zweimal rauf und zweimal runter, und nochmals zweimal rauf und wieder runter und weiter im bewegten Dreiertakt, durchaus alle mitreissend, von den Gegenbewegungen der Bassstim-men auch fantasievoll in rhythmi-scher Spannung gehalten.

 

Als der Schwung sich auf ein sonores D auspendelt, beginnt das Solo des Vortänzers alias Sologeige. Ebenfalls zweimal rauf und zweimal runter, allerdings eine Oktave höher, danach aber entschwebt die Geige, tanzt in Dreiern unermüdlich voran und steigert sich in klangvolle Figurationen.

 

Vom zweiten Ritornello des Streichorchesters und seinem Drive rauf und runter und seinen Synkopen unterbrochen, packt dann das zweite Solo der Geige nochmals den Lead für sich und steigert Höhe wie auch Virtuosität des Klanges. Die Sologeige stürzt sich voller Energie in die Drehungen des Dreiertaktes, steigert die Virtuosität nochmals intensiv und treibt den Klangfluss immer intensiver voran, stockt dann einen Moment und bietet alle Doppelgriffmöglichkeiten auf, um zu einer Art Kadenz vorzustossen und zum dritten Orchesterritornell überzuleiten.

 

So wird das Orchester erneut mitgerissen und schwingt nochmals mit. Doch es braucht noch ein letztes Solo der Geige, das entschlossen in 16tel-Bewegungen und 32stel-Läufen losstürmt, die Energien nochmals steigert und sich in höchste Höhen aufschwingt, bevor das Schluss-Ritornell einsetzt und den Tanz in einem pendelnden, feierlichen D-Dur ausschwingen lässt. Was aber nachwirkt, weil es zu Herzen ging, ist die Erinnerung an diesen sphärisch schönen langen Zeitmoment zwischen den zwei schnellen, kunstvoll virtuosen Konzertsätzen davor und danach.

 

 


www.unbekannte-violinkonzerte.jimdofree.com

Kontakt

 

tonibernet@gmx.ch