György Ligeti:
geboren 28. Mai 1923 in Diciosânmartin (Siebenbürgen)
gestorben 12. Juni 2006 in Wien
Uraufführung
3. Nov. 1990 in Köln (Urfassung),
8. Okt. 1992 in Köln (Neufassung)
Solist beides Mal: Saschko Gawriloff
Aufnahmen (Auswahl):
Gawriloff 1993
Astrand, C. 1999
Kopatchinskaja 2011
Tetzlaff 2017 (live auf youtube)
György Ligetis Violinkonzert ist eines der bekanntesten der «unbekannten Violinkonzerte» der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der gebürtige Siebenbürgener arbeitete nach seiner Flucht aus Ungarn in den Westen am Studio für Elektronische Musik in Köln und gehörte als Dozent der Darmstädter Ferienkurse zu den profiliertesten Vertretern der Avantgarde.
Um sein Violinkonzert zu situieren, muss man wissen, dass sich Ligeti später von einem elitären Dogmatismus der zeitgenössischen Musik, besonders der Darmstädterschule, abgewandt hat. Als einer, der die antisemitische Naziverfolgung und den Sozialismus im damaligen Ungarn erlebt hatte, sagte er - als er von den Avantgardisten der Darmstädterschule als Reaktionär beschimpft wurde - prägnant, er sei auch nie Parteimitglied der Avantgarde gewesen. Aber weil er auch nicht komponierte, um gesellschaftlichen Erfolg zu haben – Ligeti hatte etwas gegen eine populistische Kommerzialisierung der Musik –, suchte er seinen künstlerischen Weg auf dem weiten Feld der Komplexität in der Musik. Allerdings ging es ihm nicht, wie er in einem Interview gegen Ende seines Lebens betonte, um eine «Komplexität in der Partitur», sondern um die «Komplexität im Hörbaren».
Für den Hörenden seiner Musik bedeutet das ein Abenteuer des Hörens, es gilt sich einzulassen auf komplexe Rhythmen und Schichtungen von Rhythmen, auf das Spiel mit Obertönen, auf plötzliche überraschende Wendungen im Verlauf eines Stücks, auf verschiedene stilistische Techniken vom Hoquetus über den Choral bis zu afrikanisch inspierte Polyrhythmik und musikalischen Vexierbildern sowie auf ungewohnte Instrumente mit nicht temperierter Stimmung. «Aber damit etwas Neues und Komplexes entstehen kann, versuche ich immer, diese äusseren Impulse mit meinen inneren Bildern und Ideen zu verschmelzen.» (Ligeti, in einem Interview mit Louise Duchesneau, 1992). In diesem Sinn ging es Ligeti um Kunst mit Musik.
Das Violinkonzert hat Ligeti 1990 für den Geiger Saschko Gawrilof geschrieben, zuerst in einer dreisätzigen Form (uraufgeführt 1992), die er später zu einer suitenartigen Endfassung von 5 Sätzen
erweiterte (uraufgeführt 1992). Wichtig für die Vorarbeit des Violinkonzerts sei sein vorgängig komponiertes Horntrio (1982 vollendet) gewesen und zwar wegen der Erfahrung mit Alternativen zur
temperierten Stimmung. Das Klavier mit seiner traditionellen zwölftönigen Temperatur, die Geige, in Quinten gestimmt und das Naturhorn eröffneten
neue Klang- (und Hör-)Möglichkeiten, die Ligeti später im Violinkonzert weiter erforschte. Hier sind es eine Bratsche und eine Orchestervioline, die nach Obertönen des Basses umgestimmt sind,
sowie die abenteuerlich intonierenden Okarinen.
Hörbegleiter:
Wie aus dem unhörbaren Nichts tauchen leise Flageolett-Quinten der leeren Saiten A und D der Sologeige auf, in fünffachem Pianissimo sogleich ergänzt von einer tiefer gestimmten Viola. Es entsteht eine seltsam uneigentliche, oberton-reiche Intonation. Immer dichter wird das Klanggewebe, bis mit dem Eintritt der Marimba die Sologeige in ihren Arpeggien deutliche Akzente setzt, die zu einer Art Vexierbild einer auf- und absteigenden Melodie werden, die sich aus dem Klangegewebe heraushören lässt, das immer mehr auch von Marimba- und Xylophone-klängen umspielt wird. Die Geige ist gleichzeitig Melodieakzente-Trägerin und Sechzehntel-Begleittextur, sozusagen gespalten in zwei Persönlichkeiten. Die präludierenden Klänge mischen sich, werden mit unmerklichen und beschleunigenden Rhythmus-wechseln der Sologeige, mit dem Eintritt der Holzbläser und der Blechbläser und schliesslich mit den pochenden Pauken immer intensiver und wilder in der Geige.
Erst ein plötzlich einsetzendes Piano bringt wieder Flagelettöne auf die Geige zurück. Trompeten und Posaunen markieren ein Signal, ein Moment der Ruhe und Harmonie, dann hört man in Ansätzen wieder das Melodievexierspiel, die Solo-geige dominiert wieder mit ihren wilden Läufen und Quintenklängen, das Klanggewebe ebbt aber bei aller Dynamik immer mehr ab, bis nach der Erschöpfung der Sologeige nur noch Pauke und Grosse Pauke ins Nichts versinken, morendo poco a poco al niente, wie es in der Partitur heisst.
Attacca beginnt nun die Geige auf der G-Saite einsam, aber cantabile, semplice ma espressivo eine wunderschön einfache Melodie zu singen (für Kenner: Ligeti zitiert sie aus seinen 6 Bagatellen für Bläserquintett). Eine Viola gesellt sich mit langgezogenem Bogen dazu. Flöten und weitere Instrumente singen mit und die Hörner spreizen den Klang immer mehr. Unvermutet platzen die grellen queren Klänge von Okarinen (vogelähnliche Gefässflöten aus Porzellan oder Ton mit Fingerlöchern und einem Schnabel zum Anblasen) hinein und karikieren grell einen miss-klingenden Choral. Der Sologeige Romantik ist weg, ihr bleibt nur mit heftigen Pizzikat-Akkorden zu reagieren. Erst langsam schält sich aus einem obertonreich organisierten Wirrwarr der Choral immer aufrichtiger hervor, wie halbwegs repariert und ernstgenommen (ähnlich wie im Violinkonzert von Alban Berg). Und die Geige findet danach zurück zu ihrer andachtsvollen Melodie des Anfangs. Eine dunkelklingende Flöte löst die Sologeige leise ab und verklingt.
Nach kurzer Stille beginnt die Geige attacca über fliessenden Klängen der Streicher ein neues bewegtes Intermezzo-Solospiel. Ein Horn meldet sich mehrmals mit deutlichem Signalmotiv, die Klänge stauen sich, alles steigert sich, bis auch die Geige die Signaltöne übernimmt und die ganze Klanganstauung sich laut abstürzend entlädt.
Nach längerer Pause erst hören wir, wie aus der Stille zwei Klarinetten in leisen sich reibenden Klangnuancen eine langsam aufsteigende Passacaglia-Tonfolge vorgeben. Weich einsetzend kommt die Sologeige mit langgezogenen feinen hohen, halluzinatorischen Klängen dazu. Fast unmerklich fügt sich con sordino eine Trompete zur Passacaglia hinzu. Zwei Hörner kommen fein dissonant dazu. Immer weiter hören wir, wie die Klänge aufwärts streben, über allen die Sologeige. Mit unerwartetem Fortissimo setzen Bratschen und Celli neue Akzente. In die Passacaglia kommt – nach kurzem Erstarren - Bewegung. Die Streicher insistieren, bis die Geige von ihren hohen Obertönen herunterkommt und ein leidenschaftliches Solo beginnt. Trompeten antworten mit jazzigem Rhythmus.
Die Geige spielt insistierend und leidenschaftlich weiter, unterbrochen immer wieder von unterschiedlichen Passacaglia-Klängen des vielgefächerten Orchesters, mal zauberhaft verhalten anzuhören, mal brutal dreinfahrend. Die Geige setzt mit grossem Ton ihr immer mehr als Melodie wahrnehmbares Spiel durch, wird aber immer mehr verschlungen von einer hellen, intensiven und sich steigernden Klangwolkenströmung, die dann plötzlich abbricht. Nur die von den Streichern begleitete Leidenschaft der Sologeige klingt kurz nach.
Flöten über con sordino-Streichern bereiten einen feinen Klangteppich, aber fast schreiend und angstvoll fährt die Geige dazwischen. Die panisch gestörten Rhythmen der Geige werden von den Blechbläsern, den Schlaginstrumenten und andern dumpf oder schrill klingenden Orchesterinstrumenten übernommen und dramatisch bis zu Paukenschlägen gesteigert. Einhalt bietet kurz ein Quintenklang der Sologeige… aber die Hektik geht weiter. Sie verdünnt sich – schliesslich sind es nur noch Geige und Klarinette - in fast hypnotischen Höhen.
Dann ruft ein Horn, rufen Hörner zur Ruhe. Und wirklich, die Geige scheint ruhiger zu werden, bis dann die Hektik in Geige und Orchester wieder überhandnimmt. Unmerklich, vom Orchester vorangedrängt, geht der Satz in eine grosse Solokadenz über, wo Hektik und Virtuosität nicht mehr zu trennen sind. Nach Anweisung von Ligeti kann der Sologeiger oder die Sologeigerin die Kadenz frei erfinden. Diese soll 1 - 2 Minuten dauern, stets hektisch sein, kann aber "melodisches Material ad lib. aus allen fünf Sätzen verwen-den. Gegen Ende soll sie prestissimo sein, mit Abwechslung von arco und linker Hand pizz. in aberwitziger Virtuosität. Die Kadenz hat keinen richtigen Abschluss, sie wird (gemäss Absprache zwischen dem Solisten und Dirigenten) ganz plötzlich vom Orchester unterbrochen. Diese Unterbrechung geschieht 'wie unvorbereitet', blitzartig. Dabei soll der Solist sich in hohen Lagen (der 1. Saite) befinden, in grösster Geschwindigkeit. Beim Eintritt der hohen Woodblocks verstummt die Solo-Violine unvermittelt" - so Ligeti's Anweisungen.
Die Schlaginstrumente knallen in die Kadenz, eine abrupte Bläserfigur folgt, ein letztes Pizzicato der Sologeige setzt den Schlusspunkt, nur noch ein Flötenklang verklingt stille.