Darius Milhaud
geboren 4. Sept. 1892 in Marseille
gestorben 22. Juni 1974 in Genf
Uraufführung:
1928 durch Suzanne Suter-Sapin
CD-Aufnahme:
Arabella Steinbacher 2004
Martina Bačová 2022
Darius Milhaud, eine der spannendsten Komponistenpersönlichkeiten Frankreichs, weitgereist, ein Globetrotter mit inspirierenden Ideen und einem enormen Schaffensdrang, bezeichnete sich selbst als Gebrauchsmusiker. Er konnte alles vertonen, sowohl jüdische Gesänge, einen Katalog für Blumensamen wie auch eine päpstliche Enzyklika (Pacem in terris, von Johannes XXIII). Sein Werk umfasst rund 400 Kompositionen, für Oper, Theater, Konzert, Ballett, Film und wozu immer man ihn gebrauchen konnte. Überhaupt war Milhaud ein Kosmopolit, der bereits in jungen Jahren mit seinem Dichterfreund Paul Claudel als Attaché nach Brasilien zog, der später als Jude vor den Nazis ins Exil in die USA fliehen musste und der als passionierter Künstler und Komponist ständig unterwegs und überall am Komponieren war.
Dass sich in seinem Werk auch traditionellere Kompositionsformen für Violine und Orchester finden, hing nicht zuletzt von Aufträgen ab, die er von Geigerinnen und Geigern erhielt. Violinkonzerte gibt es von Milhaud allerdings nur drei, obwohl Milhaud selbst in seiner Jugend Geigespielen lernte. Aber wie in allen seinen Werken wollte er auch der Violine mit ihren Möglichkeiten neu gerecht werden.
Im Rahmen der Plädoyers für unbekannte Violinkonzerten, wie es Ziel dieser Homepage ist, möchte ich auf ein ganz spezielles Mini-Violinkonzert von Darius Milhaud hinweisen, nämlich auf das erste Violinkonzert von Darius Milhaud aus dem Jahr 1927, aus einer Zeit, als Milhaud in Paris zur Gruppe der Six (Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre und eben Darius Milhaud) gehörte. Gemeinsam lehnten sie die deutsche romantische (speziell wagnerische) Musik sowie den Impressionismus von Debussy ab, waren überhaupt gegen alles «Parfümierte» (Jean Cocteau) und orientierten sich an Jazz, Music-Hall, Unterhaltungs- und Gebrauchsmusik.
So steht denn hinter dem ersten Violinkonzert von Milhaud ein Auftrag der Geigerin Suzanne Suter-Sapin, die übrigens auch das Violinkonzert von Wladimir Vogel in Auftrag gab. Milhaud war gerade auf Reise in den USA und benutzte die lange Zeit im Zuge von Denver nach Chicago zum Komponieren. Dass Geräusche des fahrenden Zuges für Milhaud produktiv waren, zeigt dieses bloss 10 Minuten dauernde dreisätzige Konzert. Bei aller tonalen Vielschichtigkeit des Kompositionsstils von Milhaud weist es auch faszinierende Melodik auf. Vor allem der zweite Satz sticht hervor.
Hörbegleiter:
Schrill, aber in gemässigtem Tempo, setzt sich ein abwärtsrollendes Fahrt-Motiv in Bewegung, auf das die Sologeige zweimal mit Figurationen antwortet, in denen sie dieses Motiv versteckt übernimmt. Nach aufwärtsstrebenden Gegenbewegungen des Orchesters und dem erneut in den Bässen abwärtsrollenden Motiv ist die Maschine in Gang gekommen und man glaubt in den Flöten und dann in der Geige das Pfeifen entweichenden Dampfes zu hören. Das Orchester, speziell das Fagott, und die Geige treiben einander voran, vorwärts, rhythmisch immer markanter, bis sich wie ein Ritornell das rollende Fahrtmotiv und eine auffahrende Geigenreaktion wieder melden.
Danach scheint die Maschine an Fahrt zu verlieren, was es der Geige ermöglicht, mit ihren präludieren-den Figurationen etwas mehr in den Vordergrund zu treten. Nach einem Klarinettenlauf im Orchester übernehmen schmelzende Doppelgriffe der Geige in hoher Lage das Fahrtmotiv. Dann wird die Lokomotive effektiv langsamer, alleingelassen stürzt sich die Geige aus höchsten Fantasien in einem solistischen Lauf abwärts zurück in die Gegenwart. Dann noch ein Ruck der Maschine, dann steht alles still.
In As-Dur eröffnet die Solo-Geige eine lyrische Romanze, in gemächlich montonem Dahin-Sinnieren. Nichts hat Eile, ein Zwischenhalt, von der Fahrt noch etwas benommen. Ein Horn lässt sich mit einer zusätzlichen Melodie hören und das Orchester verwebt sich mit der Geigenlyrik. Die Geige erhebt sich in höhere Regionen. In schmelzenden Terzen und Sexten sinniert sie dahin, rhythmisch weiterhin monton und gemächlich, und singt sich aus. Dann übernehmen die Stimmen des Orchesters das ruhige Thema des Anfangs. Die Sologeige wiederholt es in hoher Geigenlage, während die Bläser des Orchesters leise die Terzen und Sexten nachsingen. In schönster tonaler Stimmung beschliesst der Melodiker Milhaud den schlichten, wunderschönen Satz.
Dann geht die Fahrt weiter. Reisebereit startet die Geige mit energischem Solo, das Orchester steigt mit Trompetenfanfaren mit ein. Rhythmisch führt die Geige diesen schwungvollen Satz an, das Orchester unterstützt rhythmisch. Eine kurze lyrische Episode der Geige erklingt wie ein zweites Thema, doch wir befinden uns hier jenseits klassischer Formen, die Geige hebt überraschend zu einer gewichtigen Kadenz an und macht diese zum Mittelpunkt dieses letzten kurzen Satzes, virtuos und lyrisch. Doch mit den musikalischen originell gestalteten Geräuschen einer Eisenbahn auf der Fahrt von Denver nach Chicago geht’s dann auf den Schluss zu.