Julia Perry: Concerto for Violin and orchestra (1963 - 1968)

Beginn des Violinkonzertes von Julia Perry
Beginn des Violinkonzertes von Julia Perry

Julia Perry

geboren 25. März 1924 in Lexington, Kentucky, USA

gestorben 24. April 1979 in Akron, Ohio, USA

 

Entstehung und Uraufführung

Komponiert zwischen 1963 - 1968;

uraufgeführt Februar 2022 durch Roger Zahab

 

Aufnahmen:

Roger Zahab (2022) auf Youtube

Curtis J. Stewart (2023) auf CD


Julia Perry wies nach einer guten Ausbildung als Musikerin in den 50er und 60er Jahren sowohl in den USA wie auch in Europa erstaunliche Erfolge auf. Sie dirigierte ihre Werke mit den Wiener Philharmonikern und dem BBC Orchestra. Sie wurde eine der ersten afroamerikanischen Komponistinnen, deren Orchesterwerke von den New Yorker Philharmonikern und anderen großen amerikanischen Orchestern aufgeführt wurden. Obwohl sie in ihrem frühen Leben eine vielversprechende Karriere aufwies, wurde diese durch eine Reihe von Schlaganfällen, die zu einer teilweisen Lähmung und schließlich zu ihrem Tod im Alter von 55 Jahren im Jahr 1979 führten, tragisch beendet. Ihre Werke verschwanden aus der Öffentlichkeit. So gehört Juli Perry zu den ungewohnt schnell vergessenen Komponistinnen, weil sie nicht nur Frau und erkrankt, sondern zusätzlich zur benachteiligten farbigen US-Bevölkerung des 20. Jahrhunderts gehörte.

Julia Perry war Geigerin, Dirigentin und Komponistin, studierte erstmals 1951 bei Luigi Dallapiccola in Tanglewood, wo sie ihr Stabat Mater für Sopran und Streichorchester fertigstellte und mit großem Erfolg aufführte. Dallapiccola förderte sie, sie kam nach Europa und studierte später auch bei Nadia Boulanger. Vor allem das ihrer Mutter gewidmete Stabat mater begründete Perrys Karriere und wurde zum meistaufgeführten Werk ihres Lebens.

 

Das zwischen 1963-68 entstandene Violinkonzert, das wegen ihrer Krankheit zu ihrer Lebzeiten nie aufgeführt wurde, stellte einen kompositionsmässig eigenständigen Beitrag zur seriellen wie auch atonalen Musik ihrer Zeit dar. Schon der formale Aufbau des Konzerts entzieht sich der Tradition der Dreisätzigkeit und gestaltet eine abwechslungsreiche Abfolge von wechselnden Tempo-, Motiv und Formabschnitten. Um sich in Perrys Tonsprache zu vertiefen, hilft es, sich den Zeit-Kontext sowohl politisch wie auch musikgeschichtlich zu vergegenwärtigen. Musikalische Vorbilder sind neben Dallapiccola Komponisten wie Schönberg, Bartok, Berg und andere, die in ihren Konzerten nach einer neuen Harmonik, Form und Inszenierung von Solo und Orchester suchten. Auch politisch prägen neue Aufbrüche das Zeitgeschehen in den USA:  die Präsidentschaft John F. Kennedys, der Kampf um Aufhebung der Rassentrennung, Martin Luther King’s Bürgerrechtsbewegung, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg, die Studentenbewegung an den Universitäten und das Aufkommen der feministischen Bewegung. Julia Perry lebte diese Epoche des Aufbruchs in den USA intensiv mit. Aufbrechen in neue musikalische und klangliche Dimensionen war denn auch Programm  für das Komponieren ihres eigenen Violinkonzertes. Perry beendete ihr Violinkonzert 1968, aber es dauerte mehr als vier Jahrzehnte, bis der Komponist Roger Zahab die endgültige Partitur rekonstruierte. Uraufgeführt wurde das Werk erst 2022.

 

Der folgende Hörbegleiter dient der Aufmerksamkeit beim Hören dieses ungewohnten Violinkonzerts. Er stützt sich weniger auf die kompositorische Technik des Werkes ab (dazu verweise ich auf die Dissertation von Clara Nicole Fuhrman, hier einsehbar), sondern orientiert sich am Zeitablauf des unmittelbaren Hörerlebnisses. Dies bleibt subjektiv, aber folgt möglichst genau und aufmerksam dem Klang- und Formgeschehen dieses rund 23 Minuten langen Violinkonzerts, von der Eröffnungskadenz bis zur vehement endenden Schlusskadenz. Dabei fasziniert beim Hören, wie sich konsonante und dissonante Klänge miteinander vermischen, gar versöhnen, hin zu einem für Perry sehr speziellen lyrischen, der Geige ungewohnt neu abgehörten Stil.

 

Formal ist das Konzert ohne Satzabschnitte durchkomponiert, einzelne Abschnitte unterscheiden sich entsprechend der drei fixen Tempi, die sich 13mal abwechseln: Slow (langsame Viertel = 60), Moderate (Viertel = 84), Fast (Viertel = 120).

 

 

Hier zu hören!

 

Hörbegleiter:

I Slow

Dreimal zwei schmerzliche Doppelgriffe, abwechselnd konsonant und dissonant, und ein hoher einsamer leiser Flageolett-Ton als Antwort, daraus entwickelt die Geige gleich zu Beginn eine lyrisch-expressive erste Solokadenz. Rezitativisch, das anfängliche Klang-Motiv variierend und weiterführend, bestimmt die Geige aus diesen anfänglichen Doppel-griffen den Klangcharakter des kommenden Konzertgeschehens und entwickelt daraus erste Melodiebewegungen. Das Anfangsmotiv lässt sich wieder erkennen.

II. Moderate

Im Spiel der Sologeige taucht bald ein rhythmisches Muster auf, das die Doppelgriffklänge belebt. Die Kadenz breitet sich aufsteigend und harmonisch aus und endet in der Geige mit einem langausgehaltenen dissonant-konsonanten Trippelgriff auf D und C.

Darauf wechselt die Geige zu schnellen Quintolen. Das Orchester tritt untergründig mit tiefen Pizzicati in das Klanggeschehen mit ein. Ein Blechbläserchor kommt dazu, an afroamerikanische Brassbands erinnernd. Die sanft-lyrische Stimmung aber bleibt und breitet sich auch im Orchester in weite Klangräume aus. Rhythmische Schaukelbewegungen auf der Note D bringen das Geschehen voran. Geigenklänge und neue Orchesterfarben vermischen sich.

III Fast

Die Flöten leiten ein Orchesterzwischenspiel ein. Lyrische Klangmischungen leuchten auf und in der Tiefe auftauchende rhythmische Blechbläserfiguren beleben das musikalische Geschehen mit sanfter Energie. Ein Xylophon samt Paukenwirbel unterbricht und markiert kurz eine Art Störung, während das sanfte Orchesterzwischenspiel unbeirrt und lange magisch weiterklingt, bis eine dreimalige Schlagzeug-Eruption das Orchesterzwischenspiel beschliesst.

 

Beim Wiedereintritt der Sologeige über schneidenden Holzbläser-akkorden wird in den Figurationen der Geige ein rhythmisches Grundmuster wahrnehmbar, das aus schnellen schaukelnden Achteln und drei Viertel-Triolen besteht. Heftige Xylophon Zwischenrufe führen dann zu einem Trompeten-Achtelmotiv, das dieses rhythmische Grundmuster aufnimmt.

IV Moderate

Sanfte Streicherklänge legen sich über diese verblassenden Bläserrhythmen.

Ein neuer, ziemlich mechanisch daherkommender Abschnitt wird wahrnehmbar, als die Geige zu regelmässigen Pizzicati-Vierteln in den 5/4 Takt wechselt und das Orchester seine Einwürfe blockweise einwirft. Nach zwei Harfenakkorden singen in einem melodiösen Orchesterzwischenspiel die Holz- und Blechbläser des Orchesters lyrisch ihre rhythmischen Figuren weiter.

V Slow

Unmerklich setzt die Geige sanft wieder ein und mischt sich in diesen Gesang mit ein. Lyrisch blühen die Orchesterstreicher in eigenartig schöner Klangmischung mit den Holzbläsern auf. Die Doppelgriffklänge des Anfangs tauchen auf der Sologeige kurz wieder auf.

VI Moderate

Erneut wird das vorherige rhythmische schaukelnde Viertelmotiv von den Blechbläsern angestimmt und dann auch gleich beschleunigt...

VII Fast

... und für längere Zeit im Orchester behauptet.

Diese fast penetrante Figurationen des Orchesters verschaffen sich Raum. Man taucht ein in die magische Klangwelt einer seltsam irrealen Brasskapelle. 

VIII Moderate

Über Harfenklängen erscheint die Geige wieder mit ihren langgezogenen liegenden Geigentönen. Lange verweilt die Harfe auf ihrem tiefen A, andere Instrumente treten dazu und entwickeln neue Klangfarbenfolgen, welche die lyrischen Geigenklänge harmonisch untermalen. Das tiefe A der Harfe hallt lange nach, während die Geige ihre langen Geigentöne verklingen lässt und sich danach in neuem Aufbruch mischt mit den verschiedensten Orchesterinstru-menten, ohne diese zu dominieren.

IX Fast

Als die Geige sich erneut aufrafft und sich an die Spitze des lange Begleitakkorde spielenden Orchesters stellt, wird das Tempo schneller. Jetzt animiert und dominiert die Geige wieder das Geschehen und führt in vorandrängenden Figurationen zu einer Art Rekapitulation des Anfangs des Konzertes.

X Slow

Die Geige erinnert an die Anfangsmotive ihrer Kadenz am Beginn des Konzerts, jetzt vom ganzen Orchester mitgetragen. Über dem Tremolo der Sologeige erklingt ein feinstimmiges Orchesterzwischenspiel, das die Motive des Anfangs auf verschiedenen Orchesterinstru-menten variiert. Nach kurzen Pizzicati und Xylophonschlägen verklingen Sologeige und Orchester auf dem tiefen G.

XI Fast

Dann bringt die Brassband nochmals ihre rhythmischen Grundmotive in Erinnerung. Die Musik feiert ihre ganz eigene Klangwelt. Die Sologeige steigert sich in heftige Figurationen. Rhythmische Paukenschläge und die Blechbläser drängen voran.

XII Moderate

In virtuos hohem Tempo stürzt sich die Geige in eine erneute Solokadenz, und ihre rezitativischen Aufbruchs-Bewegungen und Doppelgriff-Klänge vergegenwärtigen nochmals das vergangene Klanggeschehen. So wird man erneut von der Sologeige in einen Fluss von Bewegungen, Melodien und Klänge mithinein gerissen.

XIII Fast

Bis dann ein Paukenwirbel einen vehementen Orchester-Schlussspurt einleitet, der das Konzert zu einem heftigen und entschiedenen Abschluss führt. Es bleibt der starke Eindruck, in den letzten 20 Minuten etwas bisher so noch nie Gehörtes erlebt zu haben.

 


www.unbekannte-violinkonzerte.jimdofree.com

Kontakt

 

tonibernet@gmx.ch