Dieter Ammann: unbalanced instability, Konzertsatz für Violine und Kammerorchester (2011-13)

 

 

Dieter Ammann

geboren 17. Mai 1962 in Aarau, aufgewachsen in Zofingen (Schweiz) 

 

Uraufführung

Uraufführung 28.04.2013, Witten durch Carolin Widmann

 

CD-Aufnahme:
Carolin Widmann (2013) auf Grammont Sélection 7 (Musique Suisse)
Simone Zgraggen (2022) auf Naxos

 


Über zeitgenössische Kunstmusik zu schreiben, bedingt hohe musiktheoretische und analytische Kompetenzen. Würde das stimmen, dürfte ich mich hier nicht mit der Musik von Dieter Ammann auseinandersetzen. Doch auf die Frage eines Interviewers, inwiefern «Analysierbarkeit» ein ästhetisches Kriterium sei, antwortete Dieter Ammann:

«Mir fällt ein Konzertbesuch ein, bei dem ich mich über ein uraufgeführtes Stück meinem Sitznachbarn (ein Musiker) gegenüber sehr positiv äusserte. Seine Antwort darauf war, er könne dazu nichts sagen, ohne das Stück analysiert (!) zu haben. Dabei hatte er doch auch zwei Ohren am Kopf! Wenn nicht im Klanglichen, woher rührt dann die Legitimation, musikalische Vorgänge schriftlich zu fixieren, und sie so der Wiederholbarkeit auszusetzen? Ich denke schon, dass durchdachte Materialbehandlung (z. B. Vor- und Rückbezüge, Variantenbildungen, Ableitungen etc.) eine gewisse Komplexität bezüglich Binnenstruktur und Grossform, bewusste Gestaltung des dramaturgischen Verlaufs und ähnliches unabdingbare Merkmale von komponierter Musik sein müssten; vieles davon liesse sich folgerichtig auf analytischem Weg nachweisen. Aber die Analysierbarkeit zum ästhetischen Kriterium zu erheben zielt meiner Meinung nach an der Sache – der Musik – vorbei. Denn Musik ist für mich als Hörer eben das, was ich höre – und dies muss sich in keiner Weise mit strukturellen Gegebenheiten decken.»

 

Dieter Ammann erhält zunehmend grosse Aufmerksamkeit im Bereich zeitgenössischer Kompositionen. Sein Orchesterstück «Glut» ist auf dem Wege, ein Orchesterstandardwerk des 21. Jahrhunderts zu werden und neuestens feiert auch sein Klavierkonzert «Gran Toccata» mit dem Pianisten Andreas Häfliger grosse Erfolge (Ende 2020 ist sogar eine CD erschienen!). Ich wende mich hier seinem Violinkonzert unbalanced instability zu. Schon der Titel weist auf Zustände hin, die man in etwa in der modernen Physik beschrieben erwartet. Dieter Ammann sagt in seinem Werkkommentar bei Bärenreuter:

«Der Titel des Konzertsatzes unbalanced instability verweist einerseits auf die Art und Weise des Kompositionsvorgangs, andererseits auf die daraus resultierende vielschichtige Gestaltung des Formverlaufs.» Und weiter: «Meine Musik vereint eine grosse Vielfalt verschiedenartiger Texturen. Plakativ formuliert heisst dies, dass im Verlauf eines Stücks zu jedem Zeitpunkt alles passieren kann, dass nur der stete Wandel in all seinen Gestalten, vom fliessenden Übergang bis zur Ruptur, die einzige Konstante ist. Die Musik befindet sich quasi in permanenter Kommunikation, zum einen nach aussen hin, gleichzeitig aber auch nach innen, indem sie sich selber befragt, bisweilen gar in Frage stellt.

 

Das sind zwei „Hauptthemen“ meines Komponierens: einerseits die (Er)Findung individueller Formen der Zeitgestaltung mittels Klang, ohne aber auf eine Kommunikationsfähigkeit des Klangresultats zu verzichten.»

 

 

Den ersten unmittelbaren Höröffner zu diesem Violinkonzert erlebte ich selbst bei der Schweizer Erstaufführung am 7.9.2013 am Lucerne Festival. Carolin Widmann, Widmungsträgerin dieses Konzertes, begann das Konzert mit dessen energetischem Startimpuls, mit einem in der Partitur als Fingernagel-Pizzicato bezeichneten Reissklang, und zack… riss ihr die E-Saite. Sie musste eine neue Saite aufziehen und dann nochmals beginnen. Aber so aufmerksam auf dieses erneut gespielte Fingernagel-Pizzicato habe ich noch nie einen Klang innerlich in mir mitkreiert, in der gespannten Hoffnung, alles gehe gut. Und es ging gut und die Hörerwartung konnte sich dem überlassen, was sich in diesem Konzertsatz (ohne traditionelle Satzstruktur) haptisch und fragil, aber auch überwältigend und oft die Geige allein lassend klanglich ereignet. Ein Geigenkonzert, das zu entdecken, jeder und jedem Hörenden empfohlen sei. 

 

Eine Live-Aufnahme dieses Konzertes ist hier zu sehen und zu hören.

 

 

Hörbegleiter

Beginn: die Energien des Geigenpizzicatos und Resonanzen im Orchester

Das Konzert beginnt mit einem Ausstoss an Energie, wie er in einer Geige steckt:

ein hartes Fingerpizzicato hinter dem Steg, auftaktig zu einem tonhöhengebunden Pizzicato auf c3 mit der linken Hand, alles fortissimo.  

Dann 4 Sekunden Pause.

Nochmals heftiger Pizzicato-Impuls, sofort folgen Pizzicato-Serien und Klopfgeräusche auf dem Geigenkorpus, die Harmonik und Rhythmus einführen.

Erst dann kommt das Orchester dazu,

und eröffnet feine Resonanzräume zu den Pizzicato-Serien.

Im Hintergrund ist kurz eine schöne Cellomelodie zu hören.

Die Klangräume werden unruhig, es kommt zu immer heftigeren Ausbrüchen.

Die Zupf- und Schlaginstrumente des Orchesters spielen ein raffiniertes Spiel mit den Pizzicati der Geige.  

Immer wieder andere harmonische Akkorde,

heftige Ausbrüche des stark  schlagzeugbesetzten Orchesters,

suchende Klangfelder, rhythmische Einwürfe.

Kurze Posaunen und Trompetenimpulse, grelles Aufschreien, Paukenschläge,

dann kurze Erschöpfung des Orchesters, Glockenschlag.

 

Startphase des Bogenspiels

Erst jetzt nach fast 5 Minuten Pizzicato-Spiel greift die Geigerin zum Bogen: Unkonventionell für ein Violinkonzert!

Heftige anschwellende Aufstriche markieren den Beginn ihres Spiels.

Sie steigert sich sofort in virtuose Höhen,  

wieder eine kurze «wunderschöne» Melodie im Hintergrund des Orchesters, dieses Mal in der Klarinette.

Rhythmische Impulse des Orchesters beantwortet die Geige mit virtuosen Flageolettgirlanden aller Arten.

Jeder Moment ist gefüllt, ständige Wechselwirkungen von Impulsen,

es gibt kein Verweilen, alles wandelt sich: panta rhei.

Man kann Quinten-Harmonien der Geige und wilde Doppelgriffläufe hören.

Anziehen des Tempos und erneutes Ausruhen wechseln sich ab.

 

Eine «wunderschön melodiöse» Phrase der Geige steigt empor, stellt sich in den Vordergrund,  

wird aber von der Geige auch gleich wieder selbst zerrissen, als müsste sich die Geige gegenüber dem Orchester neu behaupten.

Hörbegleiter (Fortsetzung)

Energien in Wechselwirkungen und Spannungsfeldern

«Im weiteren Verlauf bleibt die Relation von Individuum und Kollektiv unberechenbar, lebt jedoch immer von unterschiedlichsten Arten der gegenseitigen Durchdringung und prägnanten Perspektivenwechseln, was auch die Bildung von kurzfristigen Allianzen mit Einzelinstrumenten einschliesst» (Dieter Ammann).

Auffällig, wie die Geige ihr Klangspektrum erweitert:  

Glissandi und Schleifer der Geige,

dann fast barocke Läufe der Geige bis hoch hinauf, in wiederholten Anläufen.

Schlagzeug und Orchester zwingen immer wieder zu klangschönem Einhalten,

manchmal überdeckt der Orchesterklang die gestisch weiter heftig agierende Geigerin.

Dazwischen ein kurzes Verharren der Geige in höchster Tonlage.

Jeder Moment ist dicht, ein einmaliges Jetzt

und doch alles instabil in der Zeit.

Dann wieder kurze Ruhe, ein klopfender Rhythmus und neues Beginnen der Geige;

das Orchester verzieht sich in die Tiefe, während die Geige ganz oben ihre hohen Töne aushält.

Dann stürzt die Geige nach unten,

und wieder heftige Läufe, Doppelgriffe.

Immer turbulenter reagiert auch das Orchester.

Geigenfiguren lösen sich ab.

Glissandi in Geige und Orchester.

Repetitive Geigenfiguren.

Drängende Rhythmusfelder.

Energien leben sich aus.

Nur langsam stellt sich etwas Beruhigung ein…

 

 

Hörbegleiter (Schluss)

Phase der Beruhigung

Hohe Geigen-Tremolos,

tiefes Grollen im Orchester.

Glockenklang, bis das ganze Orchester zu klingen beginnt.

Dann kurz eine dunkle Geigenmelodie, die sich in hohe Sphären emporhebt.

Steigerung der Geigenläufe, als wollten sie dem Orchester eine Geigenkadenz abringen.

 

Solo-Kadenz

Dann ist die Geige dran (Kadenz), sie beginnt wieder mit ihren Pizzicati.

Das Orchester zieht sich langsam zurück,

die Geige beginnt melodiös

und bringt solo höchst virtuose Versandstücke des Geigenspiels

(Ammann zitiert Virtuoses aus Geigenkompositionen, die zum Repertoire von Carolin Widmann gehören: etwa von Ysaye, Sciarrino, Wolfgang Rihm oder von ihrem Bruder Jörg Widmann).

Das Orchester tritt wieder dazu.

Ruhiges Ausklingen.

Die Geige singt die «wunderschöne» Melodie, die sogleich vom Cello im Dialog übernommen wird. Es ist die Melodie, die schon früh die Celli und die Klarinette versteckt eingebracht hatten.  

Schönheit der Ruhe,

Momente der gefüllten Stille…

Schliesslich nur noch das tiefe G der Geige.

Zuletzt ein Pizzicato-Reissakkord, unbalanced instability bis zum Schluss,

doch alles könnte wiederbeginnen.

 

 


www.unbekannte-violinkonzerte.jimdofree.com

Kontakt

 

tonibernet@gmx.ch