Esteban Benzecry
als Argentinier geboren 13. April 1970 in Lissabon (Portugal)
Uraufführung
am 05. Dez. 2009 in Paris durch
Aufnahmen:
2019 durch Xavier Inchausti auf CD (Naxos)
2016 live durch Nemanja Radulović auf Youtube
2022 live durch Alejandro Aldana auf Youtube
Das knapp eine halbe Stunde dauernde Violinkonzert von Esteban Benzecry begeistert mit seiner eigenen, musikalisch originellen Klangwelt. Ein eigener sonorer Sound, der gefangen nimmt, zusammen mit wirkungsvollen Rhythmen trägt zum spontanen Erfolg dieses Violinkonzerts bei. Benzecry’s Klangwelt ist eine Mischung von Elementen der zeitgenössischen europäischen Musik des 20. Jahrhunderts mit lateinamerikanischer Folklore, klanglich und rhythmisch faszinierend multikulturell vereint und Neues hervorbringend. Es ist auch die Suche eines Lateinamerikaners nach den vorkolonialen Traditionen, wie das auch etwa bei dem bei uns bekannteren argentinischen Komponisten Alberto Ginastera zu finden ist. Esteban Benzecry ist selbst in beiden Welten, Lateinamerika und Europa, zuhause, er ist in Argentinien aufgewachsen, begann künstlerisch mit der Malerei, studierte dann Komposition und lebt unterdessen in Paris, Frankreich. Zum besseren Hören können folgende Zitate von Esteban Benzecry aus einem Interview mithelfen:
- "Zusätzlich zu meinem Interesse an der Volksmusik unseres Kontinents hat mich meine Vorliebe für die Farben der orchestralen Palette der französischen Musik beeinflusst, von den Impressionisten über Dutilleux und Messiaen bis hin zur aktuellen Spektralmusik, von der ich viele der heute so häufig verwendeten orchestralen Effekte gelernt habe, und mein kurzer Kontakt mit elektroakustischer Musik während meiner Studienzeit in Paris, der mich, obwohl ich mich nicht in diese Richtung gewagt habe, sehr bereichert hat, indem er meine Ohren auf der Suche nach anderen Klängen geöffnet hat, allerdings mit dem Symphonieorchester, das mein Lieblingsinstrument ist. "
Und:
- "Meine Haupteinflüsse in Bezug auf die Wirkung meiner orchestralen Farbgebung sind: meine malerische Vergangenheit, ich hatte eine Ausbildung als plastischer Künstler und das hat irgendwie als Merkmal meiner Musik die Tatsache hinterlassen, dass sie sehr visuell und vielfältig in den Farben ist, es ist, als würde ich mit meiner Musik malen, als würde ich Klangkulissen konstruieren".
Sein Violinkonzert entstand nicht als Konzert, sondern aus drei Einzelstücken, die Benzecry dann in den Jahren 2006 – 2008 zu einem «Violinkonzerte mit drei autobiografischen Evokationen» weiterentwickelt hatte. Benzecry schreibt auf seiner Homepage dazu:
«Der erste Satz "Evocation d'un rêve" wurde während meines Aufenthalts in der Casa de Velázquez in Madrid geschrieben, wo ich von 2004 bis 2006 als Composer in Residence tätig war.
In diesem Werk finden Sie kleine Motive, die an spanische Musik erinnern, insbesondere an den Cante Jondo und die Musik der Tablaos, aber im Kontext einer zeitgenössischen Orchestrierung. Das Ganze bildet eine Art "imaginäre Folklore", die sich mit Traumwäldern vermischt, in denen Vögel leben, die es nicht gibt. Der Einsatz der Violine ist äußerst virtuos und ausdrucksstark und versucht, alle Ressourcen des Instruments auszuschöpfen. Dieser Satz wurde 2006 als eigenständiges Werk vom Orchester Pasdeloup mit Nemanja Radulovic als Solist im Théâtre Mogador uraufgeführt. Aufgrund des großen Erfolgs wurde ich mit zwei weiteren Sätzen beauftragt, um das Format des traditionellen Konzerts für Violine und Orchester zu ergänzen.»
«Im zweiten Satz, "Evocation d'un tango", beschwöre ich auch einen Teil meiner argentinischen Herkunft, meiner Stadt Buenos Aires, in der ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe…
In "Evocation d'un monde perdu" entwickle ich Melodien und Rhythmen südamerikanischer Folklorewurzeln wie Baguala, Carnavalito ("Kleiner Karneval", Volkstanz aus Nordargentinien), Malambo (Turniertanz für Männer, ursprünglich aus Mittel- und Nordargentinien. Er ist eine rhythmische Erinnerung: Der Mann imitiert den Galopp eines Pferdes), Spuren einer präkolumbianischen Welt, die wenig bekannt und verloren ist.»
Das Werk ist Nemanja Radulovic, Benoît Duteurtre und dem Orchestre Pasdeloup gewidmet.!
Hörbegleitung:
Eine Flöte, Klarinetten- , dann ergänzt mit Oboenklang, erzeugen sogleich eine Atmosphäre von Einsamkeit und gleichzeitiger Verzauberung. In die Bedeutung und den musikalischen Gehalt dieser Einleitung gibt der Komponist Esteban Benzecry selbst Einblick:
«Das Werk beginnt mit einer kurzen Tutti-Einführung in Crescendo und Diminuendo, die von einem Baguala-Rhythmus begleitet wird (ein Lied aus dem Norden Argentiniens, das ein Heulen, ein klagender Protest ist).
Der Mann (oder die Frau) schreit seine/ihre Einsamkeit heraus oder protestiert gegen sein/ihr Schicksal, gegen seine/ihre Umstände. Musikalisch ist es eine Art Passacaglia, in der die Streicher mit Pizzicato-Arpeggio das Charango nachahmen (ein einheimisches Instrument, das wie eine kleine Gitarre aus einem Tierkörper gefertigt ist) und die Pauke und Grosse Caisse diesen Rhythmus während des gesamten ersten Abschnitts des Werkes führen.»
Dann setzt rezitativisch aufbegehrend die Solo Violine ein. Dazu Benzecry: «In diesem ersten Abschnitt spiele ich mit den lyrischen Möglichkeiten der Violine, mit Resonanzeffekten in einer Orchestrierung, in der die Holzbläser den Gesang des Solisten nachahmen, als wären sie "Quenas" (Flöten der Eingeborenen im Norden Argentiniens), die … in den Bergen der Anden widerhallen.» Der Gesang der Geige ist äusserst fantasievoll, mit Anklängen an eine Art imaginäre Folklore und die geigerischen Möglichkeiten traumhaft ausschöpfend.
Nach einem rhythmischen Zwischenspiel des Orchesters kommt ein von Clustern im Orchester geprägter Abschnitt, mit wechselnd lyrischen oder verzweifelnd aufbegehrenden Klängen des Orchesters und der sich exponierenden Sologeige. Langsam klingt dieser Traumklang schliesslich in einer langen Solo-Kadenz der Geige aus.
Der letzte Abschnitt dieser eine Art Traumwelt hervorzaubernden Evokation «ist eine Art Toccata, in der ich die virtuosen Möglichkeiten der Violine mit einem Moto Perpetuo erkunde, das von verschiedenen Klanglandschaften durchzogen wird, in denen folkloristische Rhythmen des Malambo und des Carnavalito zu finden sind.»
Paukenschläge markieren den Schluss.
Im zweiten Satz wird ein Tango heraufbeschworen. Über einer dumpfen Begleitung erhebt sich die Geige zu einem imaginären Tango. Der Komponist erinnert sich an seine argentinische Herkunft. Auch zu diesem Satz hat der Komponist selbst eine Hörhilfe formuliert:
«Zu Beginn verflechten sich die Rhythmen und Melodien in einer Vision von Zitaten aus noch nicht geschriebenen Tangos, mit einem kadenzierenden, melancholischen Schritt in einer nebligen Atmosphäre.
Im Mittelteil dieses Satzes zeigt sich die Violine in einer sehr leidenschaftlichen Melodie, um dann ein Spiel mit der Harfe und der Celesta zu beginnen, die eine kleine minimalistische Zelle in einem sehr engen Kanon bilden, während die Violine in der tiefen Lage spielt, um schließlich in der melodischen Atmosphäre des Satzbeginns zu enden.»
Dumpfe Paukenschläge beschliessen diesen imaginären Tango.
In der dritten Evokation beschwört Benzecry eine alte präkolumbia-nische Welt herauf. Dunkel sich heftig ausbreitende Bläserklänge bilden den Anfang. Die gleichen dumpfen Paukenschläge aus dem Schluss des zweiten Satzes sind wieder präsent und durchziehen rhythmisch den ganzen Satz. Eine Cellomelodie, fortgesetzt von den Hörnern, führt aufwärts. Eine Flöte über Geigenflirren zirpt einen rätselhaften Ruf, die Klarinette und die Flöten imitieren seltsame mythische Vogelstimmen.
Pizzicato beginnt die Geige und übernimmt den Rhythmus der Pauken, bevor sie mit einem melodiösen Gesang beginnt. Die Aufwärtsbewegung der Celli begleitet das Spiel der Geige. Der Rhythmus bleibt präsent, mit ihren rhythmischen Pizzicati unterbricht die Geige dann selbst ihren folkloristisch geprägten melancho-lischen Gesang, der eine Evokation einer Welt der Erinnerung im Proustschen Sinne hervorrufen kann.
Unheimliche und massive Klänge aus tiefen Regionen des Orchesters beeinflussen den Geigenpart, der zuerst in flirrende Arpeggien flieht, dann einhält, um dann doch dieser dunklen Atmosphäre zu entkommen und in eine hellere, von den «Vogelrufen» geprägten Welt aufzusteigen.
Doch bleibt alles unentschieden, die sich ausbreitenden Bläserklänge, wilde Flötenketten treiben die Geige schliesslich zu einer Art wilden Toccata. Jetzt verändert sich auch der Rhythmus der Begleitung, die Geige reitet in wildem Ritt voran, das Orchester mit dabei. Seltsame Melodiefetzen begleiten zwischen-zeitlich diesen fantastischen Ritt, der durch eine rhythmische unheimliche Traumwelt eilt und immer atemloser bis zu den letzten Paukenschlägen voranstürmt.