Beat Furrer
geboren am 6. Dez. 1954 in Schaffhausen
Uraufführung:
15. Oktober 2020 in München durch Ilya Gringolts
(Die Aufnahme der Uraufführung ist auf Youtube abrufbar.)
Schweizer Erstaufführung:
6. September 2021 in Luzern ebenfalls durch Ilya Gringolts
Weitere Aufnahme:
Gunde Jäch-Micko 2024 (in der Medienbox "Furrer 70" des Klangforums Wien)
Das Violinkonzert von Beat Furrer entstand grösstenteils während des ersten Jahres der Corona-Pandemie 2020. Er schrieb es für den Geiger llya Gringolts. Beat Furrer prägt die zeitgenössische Musik seit Jahren, nicht zuletzt auch als Gründer, ehemaliger Leiter und Dirigent des Klangforums Wien. In einem Programmheftbeitrag zur schweizerischen Erstaufführung von Furrers Violinkonzert schreibt Martin Demmler über die sinnlich geprägte Musik von Beat Furrer: «Es sind hochfragile Tongebilde, angesiedelt zwischen Stille, Geräusch und Klang, die seine Werke inzwischen bestimmen. Furrers Markenzeichen ist ein physisch erlebbarer Klang bei gleichzeitig strengster Fokussierung auf ein klar umrissenes, reduziertes Ausgangsmaterial.» Das Konzert kann in drei Teilen beschrieben werden, drei Teile, die aber in grossem Bogen ineinander übergehen. Beat Furrer eröffnete selbst: »Die grundsätzliche Idee war, dem Geigenklang eine Resonanz zu geben – von den
höchsten Lagen bis in die Tiefe. Durch langsame harmonische Verschiebungen werden stets unterschiedliche Beleuchtungen
erzeugt.« Der folgende Hörbegleiter beansprucht keine grosse musikwissenschaftliche Kompetenz, er entstand schlicht durch
aufmerksames Hinhören und dem Versuch, meine Eindrücke zu versprachlichen.
Es ist wohl im Sinne Furrers, was der Musikwissenschaftler Andereas Karl festhält: "Über Stoffe und Entwicklungen in Beat Furrers Musik zu
schreiben, ist als ob man ein im Entstehen begriffenes Flussdelta kartographieren wollte. Seine Entwicklungsströme mäandern, nehmen Zuflüsse auf, schichten Sedimente, gabeln sich und finden stets
neue Fortführung." Darum folgt hier im Anschluss an meinen Hörbegleiter noch eine zweite Hörperspektive, wie sie im Projekt des Klangforums Wien "Furrer 70" enthalten ist.
Hörbegleiter:
Nebelhafter Beginn… Geräusche, Atem (in Bassflöte und Akkordeon)
Kaum wahrnehmbare Strukturen und Gestalten.
Tiefer Bassklang der Bläser.
Amorphe Klänge drängen aufsteigend in den Raum.
Dann werden hohe Töne, identifi-zierbar als Geigentöne des Solisten, hörbar, die sich über der amorphen Klangwelt langsam nach unten bewegen.
Die beiden Klangwelten, Orchester und Geige, gehen aufeinander zu, als wollten sie sich in einer Mitte treffen und verschmelzen. Oder gar kreuzen.
Mit der Zeit scheinen sich Ansätze einer Melodie der Geige herausschälen zu wollen.
Aber nichts ist eindeutig.
Im Gegenteil, plötzlich ein wilder Ausbruch des Orchesters,
der diese geheimnisvolle Anfangsentwicklung zerstört. Es gelingt kein Sich-Kreuzen.
Kurze Stille nach dem Aufruhr.
Allgemeines Erschrecken.
Nachzittern der Geige, stockendes Nachfragen in einem unruhigen Geigenrezitativ, das sich steigert.
Tiefe Orchesterschläge, neuartige Blechbläserklangkombinationen, wilde Orchesterfetzen. Die Geige ringt um ihre Präsenz, stockt.
Ein Posaunenton – lang und ernsthaft, bestimmend – , das Orchester schliesst sich an und verklingt langsam, amorphe Klänge wie zu Beginn.
Die Geige tritt wieder anfragend dazu.
Neues Verschmelzen amorpher, aber von tragender Schönheit geprägter Klänge…
Nochmals ein kurzer Ausbruch, ein Hervorzittern der Geige auf einem gleichbleibenden Ton, Splitter eines Geigentons… gleichsam ein Suchen der Geige nach ihrer eigenen Identität und Klangfarbe.
Dann langsames
Verklingen.
Wildes aggressives Geigenrezitativ.
Höchste Bewegtheit, ein Sich-Stemmen gegen Verzweiflung, Aufbegehren.
Apokalyptische Stimmung.
Als wollte die Geige sich retten.
Das Orchester, aufgesplittert in Tausend Fetzen und Klänge, übernimmt die wilde Bewegung, verfolgt die Geige und treibt sie vor sich her.
Die Geige steigt in höchste Lagen, ihre wild-virtuosen Tonaufsplitterungen, eine Art gehetztes Gehäcksel aus Verzweiflung. Wilde Läufe.
Breite Klangflächen untermalen den wilden sprachähnlichen Geigenausbruch.
Atemlosigkeit und Hin und Her zwischen Orchester und wilden Geigenfiguren
Dann unerwartet ein Abbruch!
Nochmals startet die Geige mit ihren wilden Ausbrüchen und Figuren.
Sie spricht, redet, schreit fast, wütend, und stemmt sich gegen das Orchester.
Beruhigt sich nur langsam. Ihre Aggression wird von Orchesterklängen aufgefangen…
Alle finden langsam zurück zur Ruhe, ab und zu zuckt die verzweifelte Aggression der Geige nochmals auf.
Grosse Sprünge, Ansätze von Melodien. Zurück zum Ton in höchster Lage des Anfangs.
Holzbläser-Dissonanzen legen sich über das Ganze, tiefe Basstöne (und geerdete Akkordeonklänge) legen sich unter die Klangwolke und das Ganze klingt beruhigend aus.
Die Klänge werden schöner und sphärischer… verklingen in Erinnerung an den Anfang.
"Drei namenlose Sätze hat dieses Werk, deren sehr unterschiedliche Charaktere dennoch nie ihre Verwandtschaft verbergen. Ihnen allen liegen Grundtonsequenzen zugrunde. Nie direkt hörbar, sind sie Fundament für immer neue harmonische Gebäude über ihnen. Sie sind die Grundlage der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Sätzen.
Im ersten Satz löst Furrer eine Melodie aus einer harmonischen Gleitbewegung, der das Schnittprinzip eines Kaleidoskops eingeschrieben ist. Man stelle sich den Blick in ein solches vor und die dort angeordneten Bilder als unterschiedliche, bereits für sich entwickelte Materiallinien, die durch Drehung ineinander geschnitten werden und so vielfältige Kombinationen erzeugen. Fern über dem Orchester schwebend, gleitet die Violinmelodie durch die Akkorde, denen sie entstammt, bis sie eine elegante Eigenständigkeit findet und in die tiefen Register zu sinken beginnt. Dort kreuzt sie sich mit dem hochsteigenden Orchester. Das Kaleidoskop dreht sich nun langsamer; alle Schichten gleiten fließend ineinander.
Im zweiten Satz nimmt die Drehgeschwindigkeit rasant zu und die Musik wird sprunghafter und dichter. Kleinste Melodiepartikel entstehen, werden beschleunigt und ordnen sich ins harmonische Gefüge ein, wo sie mit sprechenden glissando-Figuren angereichert werden, um sich auch hiervon kurz darauf wieder loszulösen. Melodien entstehen und vergehen dabei.
Der dritte Satz vereint melodische Partikel aus den beiden ersten Sätzen. Die so entstandene einstimmige Melodie wird in eine Mehrstimmigkeit aufgesplittert; große Intervallsprünge, teils
sprechende, teils singende Passagen werden kaleidoskopisch ineinander geschnitten.
Das Konzert für Violine und Orchester ist sich seiner Gattung bewusst. Es ist ein virtuoses Konzert, das teils orchestral tragend, teils kammermusikalisch intim ist und in dem die
Solistin Gunde Jäch-Micko kontinuierlich nach einer Melodie zwischen Gesang, sprechendem Tonfall und Geräusch sucht. Am Ende steht neben der gefundenen Melodie die Möglichkeit anderer."