Missy Mazzoli
geboren 27. Oktober 1980 in Landsdale, Pennsylvania
Uraufführung
3. Februar 2022 in der Kennedy Center Concert Hall, Washington DC durch Jennifer Koh
Aufnahme
Konzertmitschnitt auf Youtube
Bereits 10 Jahre vor der Uraufführung am 3. Februar 2022 begann der Entstehungsprozess dieses klanglich und formal sehr spannenden und spontan zugänglichen neuen Violinkonzerts von Missy Mazzola. Die Komponistin und die Geigerin Jennifer Koh führten viele Gespräche über die Rolle einer Solistin, welche in einem dramatischen Sinn vor, mitten und gegenüber einem Orchester steht. "Die Solistin kann das Orchester durch etwas führen und leiten oder in Opposition zu ihm stehen, oder das Orchester kann den Solisten verschlingen." (M. Mazzoli in einem Interview)
Im Pandemiejahr 2021 zog sich dann Missy Mazzola zum Komponieren auf die schwedische Ostseeinsel Fårö zurück, dorthin, wo einst der zurückgezogen lebende Filmregisseur Ingmar Bergman wohnte. Bezug zu Bergmann war dessen Film «Das siebte Siegel», der auch in pandemischen (Pest-)Zeiten spielt, in denen mit dem Tode Schach gespielt wird. Mazzola fragt in ihrer neuen Komposition, ob mittelalterliche Rituale und eben auch Musik generell heilsame Wirkungen haben können oder ob ihre Funktion eher eine rituelle Erinnerung und ermutigende Absicherung dafür sei, dass es doch nicht so schlimm kommen könne.
Jeder der fünf Sätze wurde so zu einem Mini-Drama, welches Mazzola in ihrer Programmnotiz so beschreibt: «Im Violinkonzert (Procession) spielt der Solist eine Art Wahrsager, Zauberer, Heiler und Rattenfänger und führt das Orchester durch fünf miteinander verbundene Heilzauber. Teil eins, "Procession in a Spiral", bezieht sich auf mittelalterliche Bußprozessionen; Teil zwei, "St. Vitus", ist eine Hommage an den Schutzpatron des Tanzes, der angeblich böse Geister vertreiben konnte; Teil drei, "O My Soul", ist eine verdrehte Bearbeitung des gleichnamigen Kirchenliedes, und Teil vier, "Bone to Bone, Blood to Blood", leitet seinen Namen vom Merseburger Zauberspruch aus dem 9. Jahrhundert ab. Im letzten Satz, "Procession Ascending", richtet der Solist die Spirale des ersten Teils auf und führt das Orchester geradewegs in den Himmel.»
Hörbegleitung:
Mit einem dumpfem Quart-Glissando beginnt es, als mache sich soeben eine Orchestergruppe bittend und flehend auf einen Prozessionsweg. Die Solistin stellt sich dazu, antwortet mit einer weiterführenden aufsteigenden Phrase, die in einem eigenen Quart-Glissando endet. Das Orchester wiederholt vorwärtsdrängend die Bitte, die Geige versucht zu verstehen, wiederholt die Quart-Glissandi, kümmert sich und geht in langsamen feinen Tönen, nur von den ersten Orchestergeigen begleitet, voran, als wolle sie die Bitten auf sich nehmen, doch die dumpfe Orchestergruppe wiederholt den Schmerz, kommt langsam auch in Bewegung, folgt der Geige, tiefe Pizzicati im Bass schreiten voran, erschöpfen sich. Sphärisch schiebt sich die Geige voran, leise Vibrafon- Oboen- und Flötenklänge begleiten sie. Doch alle leisen und erregten Beschwörungen nützen angesichts allen Leides der Welt wenig (oder klingen die dumpfen Orchestergruppenklänge harmonisch versöhnter?). Die Geige steigert sich immer erregter in ihr Ritual, sie geigt ihre leeren Quinten den Quarten der dumpfen Orchestergruppe fast verzweifelt entgegen, die Spirale dreht sich, bis die Geige - schliesslich fast allein - erschöpft ist. Von feinen irisierenden Orchesterklängen eingehüllt, verliert sie sich sine misura in Flageoletts und sphärischen Höhen.
Unmittelbar anschliessend folgen flautando Streichertremoli in Vibrafonwolken gehüllt, daraus löst sich leise die Sologeige und beginnt mit einem zunehmend tänzerischen Auf- und Ab-Motiv. Seltsame Bassfetzen kommen dazu und treiben den Tanz voran. Die Holzbläser übernehmen das tänzerische Motiv, es entsteht ein rhythmischer Wirbel, der sich steigert, bis er sich für einen Moment in einem ruhenden grossen Klang erschöpft. Dann beginnt das tänzerische Motiv wieder, untermalt von Bassglissandi. In allem Klanggeschehen lässt die Geige auch ihre leeren Quinten wieder erkennen, harmonische Glissandi untermalen das Tanzmotiv in den hohen Flöten. Der Rolling Bass wird zunehmend von den Posaunen übernommen, harte Xylophonschläge führen zu einer Eruption. Doch das tänzerische Motiv lebt, Glissandi begleiten dessen Ausschwingen, kurzes Aufbäumen. Schluss.
Aus einem feierlichen Akkord erhebt sich die Seele der Geige und spielt kaum hörbar in höchster Lage. Piccolo und Flöte singen eine Begleitung in langsam feierlich absinkendem Gesang, dabei sich taktmässig fast «brucknerisch» 3 zu 2 überlagernd. Die Abwärtsbewegung wird vom ganzen Orchester immer mehr übernommen, erst langsam tritt die Geige aus diesem sozusagen vom Himmel hinuntersteigenden Klanggeflecht heraus und beginnt ihre einsame Melodie zu singen, die sich in ihrer sublimen Klage immer mehr zu einer von «bachschen» Solosonaten-Figurationen inspirierten Kadenz der Solistin weiterentwickelt – als wollte sie ihre neu erhaltenen Kräfte erproben.
Mächtig setzt dann das Orchester mit den verstärkten Abwärtsbewegungen wieder ein, umfängt die einsame Solistin und trägt sie mit ruhigem Bläserklang zu neuem Mut.
Attacca stürzt sich die Solistin in einen atemlosen Tanz, eilt allen voraus, das Orchester versucht die Geigerin einzuholen, was kurzfristig gelingt, doch gleich flieht die Geige wieder davon und das Orchester sucht den passenden Begleitrhythmus zum frei wirbelnden Tanz, als brauche es … Blut zu den Knochen. Nochmals enteilt die Geige, aber die Orchesterbegleitung wird rhythmisch bestimmter und holt schliesslich die Geige in einem harmonisch grossen Akkord wieder ein und beruhigt die Hektik. In unwirklichem Sul-ponticello-Spiel findet die Geige langsam aus ihrer Trance heraus und verstummt in Stille.
Aus dumpfer Tiefe erhebt sich der Sologesang eines einsamen klagenden Fagotts. Nicht lange, dann erbarmt sich die Sologeige mit ihren leeren Quinten-Figurationen, begleitet die Klage und singt einen tröstenden Gesang, der an die Anfangsprozession des Konzerts erinnert. Jetzt aber behält die Geige die Führung und leitet das ganz Orchester langsam immer höher hinauf. Von rhythmischen Bässen getragen folgt das volle Orchester und bricht unvermutet ab. Einen Moment hängt die Geige allein in der Leere…. ein Wisch und alles ist vorbei.