Rebecca Saunders
geboren 19. Dez. 1967 in London
Uraufführung
Am Beethoven Festival 2011 in Bonn durch Carolin Widmann und dem BBC Symphony Orchestra, unter der Leitung von Sylvain Cambreling
CD-Aufnahme
2018 Carolin Widmann mit dem Symphonieorchesters des Bayrischen Rundfunks unter Ilan Volkov
Zitat aus den Programm-Notizen
"Lass es so ganz still sein oder versuch, den Geräuschen zu lauschen, ganz still, den Kopf in der Hand, lauschend auf einen Klang."
(aus Still von Samuel Beckett)
Als Hörer:in eines zeitgenössischen Konzertstücks sind Hinweise der entsprechenden Komponistin, wie sie sich die Zuhörenden ihrer Musik erwartet, sehr hilfreich:
«Ich wünsche mir, dass der Hörer mit der grösstmöglichen Neugier der Musik begegnet. Und die Musik soll diese Neugier dann wachhalten und den Hörer möglichst nah an die Musik bringen, sodass man wirklich im Klang bleibt. Vielleicht komponiere ich deshalb so oft diese Wechselbäder zwischen extrem starkem Ausdruck und diesen Pianissimo-Momenten, in denen die Ohren sich plötzlich fokussieren und mit erneuter Aufmerksamkeit der Musik folgen können. An dem Ineinandergreifen dieser verschiedenen Energiefelder, der Nebeneinanderstellung dieser Zustände zu arbeiten, ist für mich sehr spannend. Musik ist ja ein körperliches Phänomen. Und das Zuhören ist ebenso ein körperliches Erlebnis wie auch das Musizieren.» (Rebecca Saunders, in: Musik-Konzepte 188/189 s. 49-50)
Für ihr Violinkonzert "Still" schrieb Rebecca Saunders eigens Programmnotizen, die sich jetzt auch auf ihrer Homepage finden:
«Still, wie im Unveränderlichen, im Fortlaufenden, mit einer erschöpfenden Beharrlichkeit, immer, im Wesentlichen, das Gleiche.
Fragmente, jedes Mal leicht variiert, schaffen allmählich ein einziges Bild. Abdrücke, die sich wiederholen und in Zeit und Raum projiziert werden. Wie ein riesiges Mobile, das aus vielen Perspektiven betrachtet wird und in sich selbst unangetastet bleibt. Und das Licht verändert sich, der Fokus und die Position, von der aus es wahrgenommen wird, ändert sich ebenso wie die Nähe und die Entfernung zum Objekt - eine manifeste komplexe Protraktion des einen Einzigen.
Still, wie in Stasis, erforscht zwei stark gegensätzliche Zustände, die sich in einem fragilen Zustand des Gleichgewichts befinden.
Still bezieht sich auf die Rahmung von Klang mit Stille, von imaginierter "Stille" - wobei Stille ein endloses Potential ist, das darauf wartet, enthüllt und hörbar gemacht zu werden. Der Akt des Komponierens besteht darin, zu enthüllen, sichtbar zu machen. Das sanfte Ziehen am zerbrechlichen Faden des Klangs, das Herausziehen aus den Tiefen der imaginierten Stille; oder alternativ der Ausbruch des Klangs aus dem Stillstand der relativen Stille.
Still ist auch der Titel einer Kurzgeschichte von Beckett, die folgendermassen endet:
„As if even in the dark eyes closed not enough and perhaps even more than ever necessary against that no such thing the further shelter of the hand...
Leave it so all quite still or try listening to the sounds all quite still head in hand listening for a sound.“
Samuel Beckett, Still, Calder Publications 1974.
("Als ob selbst in der Dunkelheit geschlossene Augen nicht genug und vielleicht mehr denn je notwendig wären gegen das, was nicht ist, der weitere Schutz der Hand...
Lass es so ganz still sein oder versuch, den Geräuschen zu lauschen, ganz still, den Kopf in der Hand, lauschend auf einen Klang.")
Becketts Still skizziert eine einzige Situation: Den Kopf der untergehenden Sonne zugewandt, sieht der unbekannte Protagonist zu, wie die Nacht hereinbricht, wie die Dunkelheit zunimmt; dann legt er den Kopf langsam und vorsichtig in die Hände und wartet, während sich die Dunkelheit entfaltet, auf einen Klang. Wie in einer Ewigkeit, eine zeitlose Melancholie, knapp und brutal ehrlich und doch durchdrungen von einer Menschlichkeit, einer Sanftheit. Eine Stasis; der menschliche Körper wartet, zittert.» (Rebecca Saunders, übersetzt mit Hilfe von www.DeepL.com)
Schliesslich hilft für das Eintauchen (Ein-hören) in dieses Konzert auch, was die Widmungsträgerin und Solistin der Uraufführung zu diesem Konzert, das alle Klangmöglichkeiten einer Geige ausnutzt, in einem Radio-Interview gesagt hat:
«Der Titel dieses Konzerts hat eine etwas spezielle Geschichte. Jetzt heisst das Konzert «Still», bis vor wenigen Wochen vor der Uraufführung hiess es noch «Rage» (Wut, Zorn), was so ziemlich das Gegenteil ist von «Still». Der erste Teil des Konzerts ist das, was Rebecca Saunders «The Rage» nennt, wo die Geige immer wieder aus dem Nichts kommt und sich in Crescendos zum Fortissimo steigert. So geht es sehr wild und verrückt durch den ganzen ersten Teil weiter, darauf folgt ein grosses Tutti, wo alle Instrumente mit einbezogen sind, wo ich die Geige neu stimmen kann, denn zu Beginn des Konzerts musste ich eine Saite um einen Viertelton tiefer stimmen. Der zweite Teil ist komplett das Gegenteil von dem, was man zuvor gehört hat, es ist komplette Ruhe, Stille, und es endet und entschwindet ins Nichts.
Was möglicherweise Rebecca an meinem Geigenspiel interessierte, ist, dass ich bereit und willig war, vom typischen Violin-Sound wegzugehen. Im zweiten Teil nähern wir uns diesem wieder an, näher hin zu ihm, zu Halbnoten, zum gewohnten hohen Stereo-Qualitäts-Klang, aber im ersten Teil ist vieles «sull’ ponticello», was eine Vielfalt von Obertönen kreiert. Oft klingt die Geige nicht mehr, wie wir sie zu hören gewohnt sind.
Ist das nicht auch bei der Instrumentierung interessant, dass die Instrumente so kombiniert werden können, dass sie nicht mehr so klingen wie sonst. Dann kann es spannend werden.
Auch liebe ich mein Instrument, die Violine, weil sie so viele Möglichkeiten hat, die man ausschöpfen kann. Wenn man versuchen will, wirklich einen für einen speziellen Flavour spezifischen Klang zu kreieren, dann sind die Möglichkeiten unbegrenzt.» (Carolin Widmann, aus einem Radiointerview mit Carolin Widmann vor der Direktübertragung des Konzerts im Barbican-Center in London, übersetzt TB)
Eine Ur-Klang-Geste, die kurz auf den G - D (bzw. ¼ Ton tiefer gestimmt) - A - E- Geigensaiten in crescendo hinausgestossen wird. Dann Stille. Dann eine neue Klanggeste, die ebenso zwischen Geräusch und Klang oszilliert. Stille.
Nochmals diese gestischen geräuschhaften Oberton-Triller. Stille.
Dann tritt zu einem neuen gleichsam in die Luft gemalten Pinselstrich der Geige eine Basstrommel hinzu. Ein Schlag des Orchesters fährt dazwischen. Leise Bässe klingen nach.
Ein Zwiespalt zwischen tiefen Trommelwirbeln und furiosem Schwirren und Zischen der Geige tut sich auf, wird heftiger, als würden heftige Gefühle unterdrückt, die hinaus wollen.
Plötzlich ein ausdrucksstarkes, suchendes Singen der Geige, doch sofort wieder unterbrochen vom Einspruch des Orchesters und seinem Grollen.
Ein Moment Ruhe, dann weitere Gesten der Geige, Abdrücke, in die Zeit geworfen.
Immer wilder wird dieses Gegenüber von Geigengesten und zornigen Orchesterzuständen… etwas staut sich an.
Die Orchesterausbrüche drängen immer mehr hervor. Die Geige schwirrt und zischt.
Blechbläser mischen sich heftig ein, gestischer, wilder, wütender.
Ein Wahnsinn, alle diese Klang- und Geräuschvarianten in den wütenden Soli der Geige, und dann wie aufgewiegelt auch im vollen Orchester.
Zwischendurch treten immer wieder kurze Beruhigungen ein, die Violingesten wirken ins Orchester hinein zurück. Die Zustände sind voll von drängender Emotion.
Nach kurzer Beruhigung dann unerwartet neue heftig dunkel grollende Ausbrüche des Orchesters.
Der Geige bleibt ein Beharren auf ihrem Ton.
Und nochmals lange gestische Steigerungen, die Instrumentenklänge mischen sich zu einzelnen Hybridtönen, in allen möglichen Klangfarben sich überlagernd und mischend, undefinierbar, weil von verschieden Instrumenten herkommend.
Die Geige wird zu immer heftigerem Umsichschlagen getrieben, übertönt vom drohenden Orchester. Heftiges, wütendes Flüchten der Geige, ein Wegschleifen in alle mögliche Gesten und Emotionen. Nie wissend, was noch kommt.
Dann ein auffälliges insistierendes Zupfen und Zucken im Orchester, die Geige verstummt, überwältigt?
Etwas klingt plötzlich wie Metall, mischt sich ein, unterbricht. Sind es blosse Metallresonanzen (in der Partitur steht: Autospulen!!) oder Erinnerungen an sphärische Glockenklänge?
Plötzliche Ruhe, als wäre etwas Mystisches eingebrochen…
Unterbrechung… Stille, erstauntes Nachspüren des eben Erlebten. Und weiter...
Tiefe Bassklänge.
Auch die Pauke beruhigt sich.
Aus dem Nichts entwickelt sich ein neuer, sehr ruhiger Geigenton, ein D, neu gestimmt in gewohnter Scordatur, nur leise wirkt das frühere Gestikulieren nach….
Dann entschwebt die Geige in einem Aufwärts-Glissando hoch in die annähernde Unhörbarkeit ihrer Spitzentöne.
Das Orchester hallt leise nach.
Das ganze Orchester steigert sich zu einem grossen Gongklang.
Oktavenklänge der Geige, schwankend und anwachsend.
Dann ein resigniertes Abwärts-Glissando in die tiefen Geigensaiten.
Doch die Klänge hellen sich auf, bleiben aber mysteriös, geheimnisvoll, direkt schön.
Nochmals ein langes Crescendo der Geige.
Ein kurzer leiser Schlag der Trommel.
Wieder harrt die Geige auf einem langen Ton aus, die anfängliche Wut-Geste zu Beginn des Konzertes erstreckt sich jetzt in die Weite einer erahnten Melodie.
Nochmals ein Orchesteraufbäumen.
Wieder Ruhe und ein weitgezogenes Melodiefragment der Geige. Ein Schwirren, aber in neuer Ruhe und Schönheit, anders als im ersten Teil, die Gesten werden zu einer Art Melodie-Erwartung.
Dann ein langer wohlklingender Geigenton in den verschiedensten Klangfarben, schwankend, bis zur Einstimmigkeit der das Ende vorbereitenden hohen Geigentöne..
Ein letztes verwischtes Schwirren, ein schwankender hoher Ton aus Geige und hoher Trompete.
Nochmals Paukenklänge, die die Geige in ihr Entschweben über das Griffbrett hinaus ins Nichts begleiten.
Als möchte man sich aus der Existenz wegträumen, und neu bereit sein, nach all dem Erlebten, in Stille zu warten…