Yevhen Stankovych: Konzert Nr. 2 für Violine und Sinfonieorchester (2006)

Schlussmelodie ab Takt 398
Schlussmelodie ab Takt 398

Yevhen Stankovych

geboren 1942 in Svaliava (Westukraine)

 

Uraufführung: 

22 September 2006 at Kyiv durch Dmitry Tkachenko

 

Aufnahmen:

Dmitry Tkachenko

Dalia Kuznecovaite

Sokolov 2015-16


Unfassbar, welch menschliches Leid die Machtpolitik Putins in der Ukraine bereits verursacht hat. Das Konzert Nr. 2 für Violine und Sinfonieorchester von Yevhen Stankovych ist aktueller denn je.

 

Die folgenden zwei Zitate aus einem Interview–Artikel* sind bezeichnend für den ukrainischen Komponisten Yevhen Stankovych. Wie Bartok oder Enescu in ihren Ländern je auf alte Volksmusik-Traditionen eingingen, diese aber mit Tendenzen der europäischen zeitgenössischen Musik zu verbinden suchten, so geschah das auch in der Ukraine etwa durch Borys Lyatoshynsky, Myroslav Skoryk oder nonkonformistischer durch deren Schüler Yevhen Stankovich. Als er seine Oper «Tsvit paporoti» über ukrainische Volksmotive in den späten 70er Jahren aufführen wollte, gab es Widerstand von Seiten der offiziellen sowjetischen Musikpolitik.

 

Yevhen Stankovych berichtet von damals: "Zu dieser Zeit wurden alle nationalen Ideen von den Verantwortlichen der sowjetischen Ideologie ständig und rücksichtslos bekämpft. Die erste alarmierende Nachricht kam aus Weißrussland. Jewhen Lyssyk, der damals Chefausstatter der Miensker Oper war, erzählte mir, wie die dortige Bürokratie über die Ukraine dachte, ‘die begonnen hat, auf Unabhängigkeit zu spielen’. Während der Proben warnte er mich, dass meine Volksoper Tsvit paporoti keine Zukunft habe. Er hatte Recht. Wie sich später herausstellte, wurde das Schicksal der Oper von Suslov entschieden, der das offizielle Kiew anwies, nach seinen Anweisungen zu handeln. Die Führer wurden durch absurde Dinge aufgeschreckt. Zum Beispiel wurde mir gesagt, dass das Lied "Oi, Moroze-Morozenku" Valentyn Moroz gewidmet sei - und ich wusste damals nichts über ihn. Dieses Lied ist 300 Jahre alt! Ein weiteres Beispiel waren die Bühnenrequisiten von Lysyk, die drei Wege zeigten: Sie wurden als Symbol für den Tryzub [Dreizack, das Nationalemblem der Ukraine] angesehen und daher abgelehnt. Natürlich haben diese und andere Dinge dazu geführt, dass die Premiere verboten wurde.»

 

Das 2. Violinkonzert entstand viel später, 2006, in einer Zeit, als die Ukraine ein eigener Staat geworden war und eine Art neuer Universalismus möglich wurde. Neuer Universalismus ist für Stankovych die Kombination der wirkungsvollsten Techniken der Musik des 20. Jahrhunderts mit den tiefen Emotionen der Musik der vergangenen Jahrhunderte. Er ist die Brücke, die die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Musik verbindet. In diesem Sinne sucht Stankovych den grundlegendsten Faktoren der condition humaine, wie er sie erlebt, musikalisch Ausdruck zu geben.

 

Über den biografischen Hintergrund der Entstehung seines 2. Violinkonzerts sagte er: « Es war so, dass mehrere sehr nahe und liebe Menschen gestorben sind. Solche tragischen Ereignisse bringen einen dazu, über den Sinn der Existenz und die kurze Spanne des Lebens in dieser Welt nachzudenken. Genau darum geht es in der Weltmusik, in der Musik von Palestrina, Bach, Mozart, Beethoven, Vedel, Berezovsky, Schostakowitsch, Britten und Liatoshynsky. In der Musik wird das Drama des menschlichen Lebens durch tragische Kompositionen verdichtet. Die Welt war schon immer so: Man muss kämpfen, um das zu bekommen, was man wirklich braucht. Man muss für eine gute Sache kämpfen, denn das Böse ist leider immer da. Deshalb müssen wir, solange wir leben, alle Anstrengungen unternehmen, um diese Welt mit guten Dingen zu füllen.»

 

Etwas von diesem Kampf, etwas Gutes in eine tragische und böse Welt voller Machtstreben hineinzutragen, erzählt dieses einsätzige, durchkomponierte 2. Violinkonzert. Die in engem Tonabstand sich bewegenden, wahrscheinlich (da kennt sich ein westeuropäischer Hörer wie der Schreibende wenig aus!) von ukrainischer Volksmusik beeinflusste Melodien durchziehen das ganze Konzert, mal tragisch mal tröstend, mal kämpfend, mal in Schreie ausbrechend und unvermutet im Nichts abbrechend. Ich höre – gerade auch wegen obigem biografischem Bekenntnis – die ganze Weite existenzieller Trauerarbeit, die sich in diesem Konzert in musikalischen Ausdruck verwandelt.

 

* (Lesia Olinyk in The Day Issue: №37, (2007)

 

Auf Youtube hier zu hören!

 

 

Hörbegleiter:

 

Ein Aufschrei. Abstürzende schleifende Sekund-Tonschritte im Orchester. Nur noch leises Nachklingen. Nichts!

 

Auf den Schrei im Orchester folgt eine einsame Klage der Violine. Sie setzt mit einem auftaktigen Sekundschritt e-f ein, der sich zu einer Terz d-f weitet und melancholisch zu einer traurigen Melodie wird. Leise hört man ein Klopfmotiv im Schlagzeug. Die Geige erhöht auf Fis und schliesst ihre Melodie in aufhellendem Cis ab. Dann spinnt ein einsames Fagott die Melodie der Geige melancholisch weiter. Die Geige insistiert traurig auf ihren melancholischen Sekunden, die Oboe übernimmt die Melodie, typische Figurationen der Geige begleiten sie, drängen voran, bis auch eine Klarinette und dann das Horn die Sekund- und Terzschritte dieser Melodie übernehmen, deren Stimmung von einer grundsätzlichen Betrauerbarkeit menschlichen Lebens zeugt.  

 

Die Geige widersetzt sich aber aller Resignation, und treibt das musikalische Geschehen erregt und in immer höherer Tonlage voran.

 

Dann ein zweiter Ausbruch im Orchester, noch heftiger als zu Beginn; abstürzende Figuren in den Hörnern und danach in den Trompeten dominieren. Heftig beschliessen Schläge der Perkussion diesen Aufschrei des Orchesters. 

Ein langsam abfallender Streicherchor, begleitet von besorgten Geigenfiguren, folgt auf den plötzlichen Abbruch dieses Schreis, verbreitet etwas Ruhe und führt über zu einem Largo. Die Sologeige beginnt mit einer langsamen Begleitfigur, darüber senkt sich eine in zarter Höhe beginnende Streicherphrase langsam abwärts. An die ermattende Melodie schliesst sich feierlich ein ebenfalls abfallender Bläserchor an, aber die Erregung steigert sich wieder. Die Geige lehnt sich auf, kämpft sich voran, von einer wütend einfahrenden Trompete unterbrochen, dann mischt sich auch noch ein Horn mit ein, das ganze Orchester dominiert. Verzweifelt kämpft die Geige dagegen an. In wildem Sechzehntellauf stürmt die Geige - zweimal neu ansetzend – wütend voran, im Hintergrund läutet eine Glocke, die Geige bricht plötzlich ab. Mit grossem Ausdruck und molto cantabile taucht eine ernste Lied-Melodie in den Streichern auf, eigentlich sind es gleich zwei Melodien kontrapunktisch fast schmerzhaft über- und miteinander gespielt. Leidenschaftlich sich reibend führen beide Melodien zu einem Höhepunkt der Klage, mitten im vollen Orchester erklingen Glocken. Etwas später taucht heftig das Klopfmotiv vom Anfang auf und explodiert. Pause.

Jetzt übernimmt die Sologeige die Lied-Melodie im pianissimo, singt in sich gekehrt, während die Bratschen die Kontrapunktmelodie spielen, und erschöpft sich leise auf einem Fis. Ein Solocello spielt unvermutet wieder die Anfangsmelodie, e-f und d-f beginnend. Nun wirft die Solo-Geige wütend das grell gewordene Klopfmotiv dazwischen, steigert es. Aber auch das Fagott übernimmt die Trauer-Melodie des Anfangs und führt sie trotz der grellen Einwürfe der Geige zu einem wunderschön leuchtenden Bläserschluss.

Nach kurzem Einhalten beginnt die Geige nun mit einer wunderschön ruhigen Melodie in langsamen synkopierenden Triolen, die in ihrer Sekundstruktur an die Anfangsmelodie erinnert; sie wird von einer Orchestergeigenmelodie in hoher Lage übermalt.  Wieder hört man Glockenklänge im Hintergrund. Dunkel eingefärbt übernehmen zwei Flöten die Triolenmelodie, die Geige spielt kurze hohe Melodiefragmente dazu. Dann übernehmen Pauke und Tamburin den Rhythmus und verwandeln die Triolenmelodie in einen wütenden Aufschrei.

Leidenschaftlich stellt sich die Geige mit weit ausgreifender Geste gegen alle verzweifelt wilden Einwürfe der verschiedenen Orchesterinstrumente. Heftig verteidigt die Geige ihre Triolenmelodie gegen die einzelnen Stimmen des Orchesters. Erst als die Geige etwas später nach einem Ausbruch des Orchesters die langsame Melodie auf der G-Saite spielt, scheint sich das Orchester zu beruhigen. Doch vergebens, das Orchester dominiert und stürzt sich in einen neuen Gewaltausbruch, der wieder unvermittelt abbricht. Leere.

Eine Klarinette bringt leise wiederbeginnend ein absteigendes Motiv, die Sologeige wirft zitternd ihr Motiv ein, vergebliche Harfenklänge, Flöten wiederholen das Motiv der Geige, aber das Orchester behauptet tobend immer mehr seine Dominanz. Das Horn spielt inmitten des wilden Orchesters aggressiv zweimal fast höhnend die Melodie des Anfangs. Wieder kämpft die Geige in sich steigernden Sechzehntelläufen gegen das Geschehen an, unterbrochen von heftigen Orchesterschlägen, zuletzt bricht alle Gewalt wieder in sich zusammen. Nur eine Glocke verklingt leise. 

Die Geige beginnt wieder ihre Largo-Begleitung, die Geigen spielen ihre hohe sphärische Melodie.

Neu setzen jetzt aber Klarinette und Fagotte mit einem sehnsüchtigen, an Volksmusik erinnernden Lied ein. Es klingt wie eine tröstende Variante der bisherigen von Sekundschritten geprägten melancholischen Melodien. Die Sologeige wiederholt die Melodie in Terzen, dann spielen die Orchesterstreicher diese sehnsüchtig tröstende Melodie, von Harfenklängen verklärt. Hörner singen mit, Flöten begleiten, das ganze Orchester stimmt ein, nur die Sologeige bringt nochmals Unruhe mit hinein, was dem Orchester Gelegenheit gibt, seine Dominanz nochmals auszuspielen. Aber auch jetzt vergebens, es bricht erschöpft ab. Da übernimmt die Sologeige zusammen mit dem Streicherchor nochmals leise diese tröstende Melodie. Wie in Tränen lässt die Geige diese Melodie in Pizzicatos ausklingen, als ob sie die condition humaine und die Verletztlichkeit des Lebens am Schluss akzeptierte.

 

 


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