Andrew Waggoner
geboren 10. November 1960 in New Orleans (USA)
Uraufführung:
15. Februar 2015 in Seattle durch Michael Lim und die Philharmonia Northwest, Dirigentin Julia Tai
CD-Aufnahme:
2018 Michael Lim
Es gibt Musikstücke, die einen unmittelbar anspringen können. So geschah es mir mit dem Violinkonzert (2015) von Andrew Waggoner. Ob es das Wiedererkennen der Quinten-Klangwelt war, die für das Geigenspiel grundlegend ist und auf dem alles, was die Geige hervorbringt, aufbaut. Ob es die symbolische Tiefe der Quintenwelt war, die einer Kunst des Geigenspiels ja immer innewohnt und die in diesem Violinkonzert zum Thema wird?
Andrew Waggoner, 1960 in New Orleans geborener amerikanischer Komponist und Geiger, beschreibt sein Violinkonzert, das auf Anregung des englischen Dirigenten David Curtis entstanden ist, selbst folgendermassen:
«Nach
einem Eröffnungssatz, in dem alles in irgendeiner Weise eine akustische Spur der offenen A- und E-Saiten der Solovioline ist, und einem zweiten Satz, der seinerseits aus dem offenen D und A
entsteht und in dem dieses Summen der Quintenresonanz zu einem kaleidoskopischen, zuweilen aus den Angeln gehobenen Perpetuum mobile wird, ist der dritte Satz eine Elegie, die durch eine Reihe
von freien Variationen wandert, bis sie in einer Katharsis explodiert, die sowohl quälend als auch ekstatisch ist. Nach dieser Offenbarung lösen sich Violine und Orchester voneinander, wobei sich
das Orchester in gedämpfte Echos zurückzieht, während die Violine weiter nach außen, nach oben und tiefer in ihren eigenen qualvollen Entdeckungsprozess vordringt. Es ist, als ob zu viele Geister
durch die Gewalt des Höhepunkts gestört wurden und das Orchester sie zur Ruhe bringen will, während die Geige entschlossen ist, sie zum Sprechen zu bringen, um für etwas zu antworten, das lange
vernachlässigt und verleugnet wurde.» (Andrew Waggoner)
Was mich bei Andrew Waggoner zusätzlich fasziniert, ist seine Reflexion über Musik und seine Aussagen über das, was Musik existentiell eröffnen und bewirken kann:
«Sehen Sie, ich möchte in der Musik ergriffen, erschreckt, in eindringlicher Schönheit gebadet, zerstückelt und wiedergeboren werden; ich möchte gewaltsam in ihre politischen, sozialen und
sinnlichen Dimensionen eintauchen; ich möchte, dass meine Beziehungen zur Erinnerung, zum Vergehen der Zeit und zu meiner eigenen Sterblichkeit offengelegt werden; ich möchte in der Gegenwart des
anderen sein. Das ist für mich echte Präsenz. Das ist mein Ruf von jenseits des Styx.
Unsere
Vollendung als menschliche Wesen, unser Zugang zu der Erweiterung der Seele, die die Musik ermöglicht, verlangt diese Begegnung mit ihrer Andersartigkeit. Dies gilt unabhängig davon, ob wir
Zweifler, Atheisten oder unerschütterlich in unserem Glauben sind. Die Erfahrung muss sich nicht in die Obertonreihe und in die Sphärenmusik ausdehnen, sondern einfach die unsichtbaren, aber
wesentlichen Dimensionen des Hier und Jetzt beleuchten.» (Andrew Waggoner)
Und über den Zugang zu seiner Musik meinte Andrew Waggoner:
"Ich
denke, die beste Art und Weise, sich mir und meiner Musik zu nähern, ist, wenn man von vornherein weiß, dass die beiden wichtigsten Werte für mich in jedem musikalischen Austausch Fremdheit und
Schönheit sind.
Ich sage
"Fremdheit", weil die fesselndsten, dauerhaftesten Begegnungen, die wir mit kreativer Arbeit haben, durch eine Ebene der Verwirrung oder des Numinosen gekennzeichnet sind, durch etwas, das uns
sofort als "anders" erscheint, dass uns aber hoffentlich das Werk selbst die Werkzeuge gibt, um diese Andersheit im Laufe der Erfahrung auszuloten.
"Schönheit" ist vielleicht ein wenig selbstverständlicher, aber sie kann sich natürlich auf unzählige Arten manifestieren, einschließlich der Schönheit der Form, der Gestalt oder des dramatischen Bogens. Ein Großteil der Musik, die ich am meisten liebe (J.S. Bach, Beethoven, Strawinsky, Duke Ellington, Miles Davis, Harbison (wirklich!), Elliott Carter, Pierre Boulez), berührt mich auf der Ebene der großen Form ebenso wie auf der Ebene der oberflächlichen Sinnlichkeit.
Dennoch
ist Sinnlichkeit für mich sehr wichtig, und wenn ich das Gefühl habe, dass ich eine Einheit von Form und Oberflächenschönheit gefunden habe, die den Hörer dazu bringt, lange genug bei einem Stück
zu bleiben, um herauszufinden, woher seine Fremdartigkeit kommt und was sie bedeutet, dann habe ich das Gefühl, den Jackpot geknackt zu haben. Das ist natürlich nicht immer der Fall." (Andrew
Waggoner)
Ohne Zugang zur Partitur zu haben, versuchte ich mein persönliches Hörerlebnis in einen Hörbegleiter umzusetzen (Siehe unten!). Etwas von der unmittelbaren Faszination dieses Violinkonzertes, das mich zu einer tieferen Beschäftigung verführt hat, sollte durchscheinen. Jedes intensive Zuhören hat zu tun mit der unmittelbaren Erfahrung des «Hier und Jetzt» im momentanen persönlichen Kontext des eigenen Lebens.
Hier zu hören:
Satz 1: Moderate. Broad. Anxious
3: Slower (Solitary; Remembering)
Hörbegleiter:
Eine angerissene Quinte (a – e der oberen Geigensaiten) und eine kurze anschliessende Resonanz-phase des Begleitensembles (die auf einen Sforzato-Schluss hinzielt): Wie ein Zugangscode eröffnet dieses offene Quintintervall das musikalische Geschehen und reisst die Hörenden mitten hinein in einen rhythmisch lebendigen und seltsam attraktiven Quinten-Klangraum.
In diesem pochenden Intervallraum breitet die Solo-Geige in breit ausholenden Phrasen ihr auf- und absteigendes Tonmaterial vor uns aus, bis nach kurzem Stopp neu musikalischer Atem geholt werden muss.
Wieder die angerissene a-e Quinte in der Sologeige. Breit schreitet die Geige voran und macht, von reichen Ensembleklängen untermalt, den Eindruck, frei zu improvisieren. Die Quintintervalle sind allgegenwärtig, und sowohl Sologeige wie auch die Instrumente des Ensembles scheinen sich darin zu gefallen und spiegeln sich gegenseitig.
Kurzer Einhalt der Geige, eine Klarinette tritt duettierend ins Geschehen ein, dann eine Bratsche, eine Trompete. Die Geige behauptet weiter rhythmisch und repetitiv ihre Führung. Die Ensembleinstrumente und die Sologeige entwerfen neue Melodieansätze, doch dann türmen sich beängstigende Klangmomente dissonant auf. Einhalt.
Wieder eröffnet – attacca - die Quinte den Satz, jetzt allerdings auf den tieferen Saiten der Geige (D und A). Ohne Pause folgt gleich auch der Resonanz-Zugangscode vom Anfang. Hartnäckig beschleunigt die Geige sogleich das musikalische Geschehen. Pizzicati der Streicher begleiten und drängen mit. Die Sologeige steigt in höhere Klangbereiche auf. Eine Flöte tänzelt in der Höhe, eine Klarinette im Untergrund. Repetitiv steigern sich Sologeige und Pizzicato-Streicher, ja das ganze musikalische Geschehen drängt voran. Unregelmässige Rhythmen bringen den Klangfluss ins Stocken. Doch der Quinten-Intervallraum bleibt präsent, bildet sich gleichsam zu einem ständigen Perpetuum mobile, minimalistisch strömend und fast formlos, aber gleichsam willens, sich dem Verlöschen zu entziehen.
Unmittelbar ohne Pause erkling nun zum dritten Mal die Zugangscode-Quinte (jetzt wieder eine Quinte tiefer in G – D) und setzt einen Neuanfang. Denn der Satz entfernt sich gleich nach der Eröffnung von seiner Quinten-Dominanz, setzt stattdessen eine kleine Terz dagegen und befreit sich aus dem bisher alles beherrschenden Quintenraum in eine luftig freie neue Atmosphäre. Die Sologeige beginnt in dieser neuen Atmosphäre alsbald mit einer wunderschönen lyrischen Elegie. Ihr folgen Variationen und Erinnerungen an Material aus den ersten Sätzen, die Geige gerät in Ab- und Auf-Bewegungen. Instrumente des Ensembles duettieren erneut mit der Geige. Langsam aber verliert das Orchester seine Luftigkeit, Blechbläser und dumpfes Grollen des Schlagzeugs verdunkeln die Atmosphäre, wecken in den Hörenden gleichzeitig aber auch Assoziationen an Unbewusstes und vergangen Hymnisches. Die Geige aber löst sich immer mehr vom Ensemble ab. Über langgezogenen Blechbläserstössen und seltsamen Ensemble-Klängen spaltet sie sich in nervösem Suchen vom Ensemble-Klang ab. Das musikalische Geschehen erlahmt immer mehr. Nur noch stockend und stossweise bringt die Geige sich ein. Trotz energischem Klopfen der Pauken gegen diese Vereinzelung der Geige verliert sich das Solo in einsame Schlussquinten und ein finales A.