Jörg Widmann
geboren am 19. Juni 1973 in München
Violinkonzert (2007)
Uraufführung: 17. September 2007 in Essen durch Christian Tetzlaff, Violine
Violinkonzert Nr. 2 (2018)
Uraufführung: 31. August 2018 in Tokio durch Carolin Widmann, Violine
Das erste Violinkonzert von Jörg Widmann ist auf seiner durchgehenden Suche nach Schönheit nicht in Sätze unterteilt, sondern führt in einem Bogen durch die verschiedensten existentiellen Zustände einer sehnsüchtigen Psyche, sowohl durch die des Geigers wie auch die der aufmerksam Zuhörenden.
Schon in der solo-gespielten Anfangsmelodie der Geige seien komprimiert alle Parameter des Konzerts enthalten, etwas, was man nicht bewusst hören kann, aber vom Komponisten offengelegt ist. Ebenso sei die 7. Sinfonie von Sibelius Modell für die Klangwelt dieses Konzerts gewesen, was heisst, dass motivisch immer wieder alles mit allem verbunden ist und die Harmonien sich auf der Suche nach Schönheit zwischen Dissonanzen und Dur-Harmonien reiben. Auch enthält die Violinstimme Erinnerungen an die bedeutenden Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts, angefangen von Berg über Hartmann und Schostakowitsch bis Petterson. Doch hören wir uns selbst auf unsere Art durch dieses Konzert hindurch.
Eine Art «unendliche Melodie» der Sologeige eröffnet das Konzert auf der G-Saite, schönheitstrunken und schwärmerisch, wie es in der Anweisung heisst.
Schliesslich kommt das Orchester aus der Tiefe der Kontrabässe zum schwärmerischen Gesang der Geige hinzu, das Geigensolo muss ab jetzt durch alle weiteren Klangereignisse hindurch und muss sich in immer wieder neuem Klangumfeld bewähren. Sofort wird der Gesang der Geige intensiver und wächst hinein in eine Phase voller Doppelgriffe.
Kurzes heftiges Aufschrecken der Geige, ein leiser Lauf in die Höhe, die Geige will weitersingen, eine Flöte tritt melodiös hinzu, spielt mit, später Hornklänge und verschiedene Bläserstimmen.
Das dichte Klanggeschehen treibt die Geige schliesslich zu einer kurzen Solo-Kadenz.
Darauf reagiert das Orchester und klingt ruhig nach, die Geige aber singt weiter. Die Orchesterklänge bilden einen beharrlichen Klangraum. Unruhe erfasst das ausdrucksvolle Singen der Geige, die dann in höchste Lagen aufsteigt.
Einen Moment lang übernehmen hohe Flöten den Klang der Geige. Spiccato-Passagen der Geige fallen auf.
Und weiter singt die Geige, ohne Unterbruch durch alle Klangräume hindurch (ähnlich wie in Allan Pettersons Violinkonzert), untermalt durch Orchesterharmonien, die Klangräume in grosse Tiefen und Weiten öffnen. Kurze Ruhephase.
Als die Orchesterstimmen zunehmend intensiver und lauter werden, stemmt sich die Geige gegen ihren Druck, flieht immer wieder in höchste Stimmlagen, bis es zu viel wird und die Geige sozusagen in wilden hohen Zuckungen ausrastet. Heftiger Ausbruch auch des Orchesters. Auch die anschliessende Beruhigung im Orchester wirkt unheimlich.
Dann scheint alles in ausklingenden Celesta- und Xylophonschlägen zu ermatten, nur die Geige findet nicht mehr zu Ruhe.
Die Zuckungen in den Extremhöhen wirken nach, auch wenn sich die Situation der Geige emotional wieder etwas beruhigt.
Erst als die Orchesterbegleitung in kalte Höhen steigt, treibt eine dumpfe Klangmasse auch die Geige wieder in höchste Lagen, immer drohender. Die Geige reagiert immer verzweifelter. Die Orchesterklänge werden immer dichter und beharrlicher, bestimmender, die Geige in ihrem Auf und Ab hat Mühe dagegen anzukommen.
Mehr und mehr ermattet die Stimmung. Man meint Dur-Akkorde im Orchester zu hören, aber alles versinkt.
Leises Flimmern im Orchester, leises Glühen. Erst langsam füllt sich die Orchesterbegleitung wieder auf.
Ferne Klänge, Flöten spielen dazwischen, und aus tiefer Lage erhebt sich die Melodie der Geige wieder. Schwach und unsicher.
Nochmals ein Verebben der Klänge.
Gänzliche Ruhe.
Dann ein plötzlicher Schlag von Geige und Orchester, grosse Hektik entsteht, auch in der Geige.
Erst mit der Zeit findet die Geige wieder zu ihrem melodiösen Spiel, immer bedrängt von seltenen Orchesterklängen. Die dichten Klänge steigern sich, Hektik der Geige, dann erhebt über reichem Klangteppich auch die Flöte ihre Stimme, die Geige antwortet in höchster Lage und schöpft Kraft, steigert sich in heftige Doppelgriffe hinein, aber es bleiben die bedrängenden Orchesterklang-räume, denen die Geige immer wieder in Extremlagen ausweicht.
Schliesslich interveniert das Orchester entschieden mit ein paar massiven heftigen Schlägen, die Geige kommt aus ihrer Extremlage hinunter, auch das Orchester beruhigt sich, man hört eine Hornpassage, die mit der Geige dialogisiert. Verstummende Orchesterklänge, das Orchester zieht sich zurück, das Geigensolo wird immer zerbrechlicher.
Ein eisiger hoher Klang der Geige beendet diese lange Reise im und durch den «Sog der Klänge» (vgl. Buchtitel von Martin Fein zu Gesprächen mit Jörg Widmann ). Bedrängte und erkämpfte Schönheit, die Unruhe wird auch nach dem Hören weiterbestehen, aber existentiell vertiefter.
Die folgende Einführung in den Gehalt des zweiten Violinkonzertes von Jörg Widmann stammt vom Komponisten selbst und findet sich auf der Homepage des Schott-Verlags (www.schott-music.com):
"Das Violinkonzert ist eine „heilige“ Gattung. Auch eine Gattung, der man Persönlichstes anvertraut. Zumal dieses Violinkonzert meiner Schwester gewidmet ist. Das Gesangsinstrument Violine als Träger unterschiedlichster menschlicher Emotionen."
"Der 1. Satz „Una ricerca" ist eine Suche der Geige nach sich selbst, nach der eigenen Stimme. Eine Suche nach Klängen, Gesten, Gestalten, Zusammenhängen. Das Orchester antwortet nur sporadisch, allerdings mit den Klängen und Figuren, die in den folgenden Sätzen dann bestimmend sein werden. Dieser 1. Satz ist mit ca. 5 Minuten ebenso lang bzw. kurz wie der abschließende 3. Satz." (Jörg Widmann)
"Den zentralen und mit Abstand umfangreichsten Satz habe ich mit „Romanze“ betitelt. In diesem Satz wird ein weit verzweigter seelischer Kosmos aufgespannt, es ist eine Reise ins Innere. Unterschiedlichste emotionale Zonen werden durchquert, Liedhaftes, Zartes steht neben Geräuschhaftem und bruitistischem Ausbruch. Aber immer bleibt die Geige die Erzählerin." (Jörg Widmann)
"Bewegungsmuster der voran-gegangenen Sätze werden hier in eine unablässige Hochgeschwindig-keitsbewegung hineinkatapultiert und auf die Spitze getrieben. Der Gestus bleibt aber fast durchgehend leicht.
Kompositorisch ist es über alle drei Sätze hinweg ein permanentes spielerisches Variieren eines trotz Klang- und Farbvielfalt im Grunde streng limitierten Tonmaterials und Gestenvokabulars. Die Erfindung selbst, die Klangfarben, die Harmonik: Das war für mich, seit ich musikalisch denken kann, schon immer wichtig. Aber der Fokus auf Reduktion und Form ist neu. Er wäre ohne meine zweite Auseinandersetzung mit der Gattung Violinkonzert bei mir wohl so nicht entstanden." (Jörg Widmann)