Johann David Heinichen
geboren 17./27. April / 1683 in Krössuln
gestorben 16. Juli 1729 in Dresden
Komponiert
um 1715 - 1720
CD-Aufnahmen
1992 Anton Steck (Leitung Reinhard Goebel): Seibel 215 + 226
2013 Renate Steinmann: Seibel 215
2022 Johannes Pramsoler: Seibel 226
Die Concerti Johann David Heinichens anzuhören bedeutet: auf einen Komponisten zu hören, «welcher etwann mehr auf Tendresse, gout und brillant der Music als auf Pappierene Grillen regradieret» (So J.D. Heinichen über sich selbst in «Der General-Bass in der Composition» Seite 9).
Und wenn Heinichen betont, dass «die Seele und Tendresse der Komposition wahrhaft nicht in ein paar hundert verschimmelten überflüssigen Regeln» besteht, so war Heinichen trotzdem einer, der die Musik nicht völlig dem Ohr überliess, sondern gerade aus der Hörerfahrung heraus Regeln für das Spiel des Generalbasses erforschte, ganz im Sinne der damaligen Wissenschaften, die kosmische Weltbilder wie musikalische Regeln nicht mehr von irgendwelchen antiken Autoritäten und Theorien her ableiteten.
Heinichens Kompositionen zu hören heisst aber auch: einer Hochepoche virtuosen instrumentalen oder kirchlichen Musizierens am Hof August des Starken zu begegnen. Der Dresdner Hof war in den Jahren, als Heinichen Hofkapellmeister war (von 1717 bis 1729), ein kulturelles Zentrum europäischer Malerei und Musik des Barock. Besonders Friedrich August II., der Sohn und Nachfolger Augusts des Starken, unternahm im Alter von 19 Jahren kulturelle Reisen in ganz Europa, vor allem aber nach Italien. In Dresden förderte er darauf die italienische Musik, wie er sie mit seinen Musikern besonders in Venedig erlebt hatte. Auf seine Anregung hin berief August der Starke Heinichen zum Hofkapellmeister am Dresdner Hof. Heinichen leitete in der Folge bis zu seinem frühen Tod eines der besten Orchester der damaligen Zeit mit den brillantesten Instrumentalisten. Namen wie Jean Baptiste Volumier, Vorgänger von Johann Georg Pisendel (als Solo-Geiger), Pierre Gabriel Buffardin (als Flötist), Jan Dismas Zelenka (als Komponist und Kontrabassist) sind heute noch bekannt. Zudem trafen sich am Hof von Dresden auch die Geiger und Komponisten Francesco Maria Veracini und Antonio Lotti, sodass von einer barocken Avantgarde in Dresden sprechen könnte.
Bei solch prominenten Solisten in der damaligen Zeit ist es verständlich, dass neben Konzerten für einzelne Solisten genauso Concerti Grandi für verschiedene Instrumente attraktiv waren. Solisten lösten sich innerhalb der gleichen Sätze ab und standen in klanglich attraktivem Vergleich. So repräsentierten sie in Dresden die Macht, die Kultur und die Fest- und Vergnügungskapazität einer Epoche. Nur etwas mehr als 100 km von Dresden entfernt lebte in Leipzig eine andere Kapazität dieser vielfältigen Epoche: Johann Sebastian Bach. Als Heinichen an Schwindsucht (Tuberkulose) starb und seine Stelle frei wurde, bewarb sich auch Bach als Nachfolger. Doch August der Starke liess die Stelle unbesetzt. Einige Jahre später verlieh August der Starke dann Johann Adolph Hasse den Titel eines «Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Kapellmeisters». Hasse zog mit seiner Frau, der Sängerin Faustina Bordoni, 1733 unter August III. an den Hof von Dresden. Was wäre aus Bach und seinem Alterswerk geworden, wäre er um 1729 nach Dresden gezogen…
Bachs Violinkonzert-Literatur ist allgegenwärtig bekannt, hier weise ich ergänzend auf die weitherum unbekannten Concerti grandi von Johann David Heinichen, die eindeutig schlichter und kürzer sind und trotzdem neben Solo-Geige in vielfältiger Besetzung daherkommen. Nach Meinung des Heinichen-Forschers Reinhard Goebel zeichnen sich diese Konzerte durch Mut zum Einfachen, Grandiosen, Naheliegenden sowie durch Farbigkeit der Instrumentation und Arbeitsteilung der Stimmen aus. Heinichens Concerti zu hören heisst sich bewusst einem Klangerlebnis barocker Grossartigkeit und Vielfalt hinzugeben.
Um sofort Aufmerksamkeit zu gewinnen, spielt das Streichertutti unisono ein ausdrucksvoll sprechendes Ritornell-Thema, das aus Drei-Klang-Sechzehntelfiguren, einem repetitiven rhythmischen Motiv, Tonleiterläufen und Tremolo-Bewegungen besteht. All das aber sul piombo gespielt, also mit Dämpfer, damit die anschliessenden Soli der Instrumente umso heller glänzen können. Zuerst bringt die Solo-Geige ihre glitzernden Klangfiguren. Dann folgen Oboe und darauf die Flöte mit ihren solistischen Sechzehntel-Klangreizen. Nach kurzem Ritornellunterbruch setzt die Theorbe zu einem längeren solistischen Auftritt an. Mit aufwärtsschreitender Bassüberleitung wiederholt das gedämpfte Streichorchester sein Ritornell. Über einer Art «Walking-Bass» setzen dann die Solisten kurz nacheinander mit ihren Klangfiguren wieder ein und führen zu einem Voll-Einsatz des ganzen Orchesters und dessen rhythmischem Motiv. Danach übernimmt nochmals die Solo-Geige die Führung, aber –unterbrochen jeweils von kurzen Ritornell-Zwischenspielen – treten alle Solisten ein letztes Mal in diesem "klangreizvollen" Satz auf, die Theorbe, dann die Flöte, dann die Oboe. Und dann ist auch schon Schluss.
Ein Trio von Oboe, Violine und Flöte hängt einer melancholischen Melodie nach. Zuerst lösen sich die Instrumente in der Vorstellung der Melodie ab, dann vereinen sie sich friedlich in nachdenklicher Stimmung. Still ist auch das Verklingen dieser meditativ einfachen und schönen Melodie.
Mit einem hüpfend bewegten und synkopischen Allegro-Thema beginnt das Orchester. Dann legt zuerst die Theorbe ein Solo hin, vom Ritornell der Streicher bald wieder abgelöst. Als zweites übernimmt die Violine den auf Klangwirkung angelegten Solistenpart. Danach ist nach Ritornell-Einsprengseln des Orchesters die Flöte mit hellen Klängen an der Reihe. Nach einem melodiösen Duett von Oboe und Flöte und ausführlicher Wiederholung des Ritornells – mit Instrumenten-Soli von Cello und Bläsern – bekommt nochmals die Solo-Geige einen kadenzartigen Auftritt, den sie nutzt, um wirkungsvoll zum prunkvollen Schluss überzuleiten.
Schritt um Schritt baut sich ein rhythmisch konstantes Andante in den Streichern auf und bildet dann die durchgehende Begleitung für die wie aus dem Hintergrund dazukommende Oboe. Sie stimmt eine lange, feierliche Gesangsmelodie an. Nachdem das Orchestertutti sein rhythmisches Ritornell wiederholt hat, setzt die Geige - der «Violino concertante», wie es in der Partitur heisst – ein und führt die Oboenmelodie in neuer Harmonisierung weiter. Nach kurzem Orchesterzwischenspiel vereinen sich dann Oboe und Violino concertante zu einem Duett, immer rhythmisch konstant vom Tutti begleitet. Auf den Schluss hin übernimmt das Staccato-Motiv des Orchesters-Andantes gänzlich die Musik und lässt Oboe und Violino verstummen.
Im 6/8 Takt stürmt das Orchestertutti mit Vivaldi-artigen Themenpartikeln voran. Klanglich reizvoll hervorstechend übernehmen im ersten Soloteil zwei Blockflöten virtuos die stürmischen Motive, nur von einer Bassflöte wirkungsvoll im Bass begleitet. Nach dem Zwischenspiel des Ritornells führen zwei Oboen den virtuosen Soloteil weiter, von auffälligen Läufen des Fagotts im Basso continuo begleitet. Nach kurzer Einmischung des Tuttis lösen sich die Solistenpaare - vom instrumental variierenden Basso continuo originell unterstützt – mehrmals gegenseitig ab: die zwei Blockflöten, die zwei Oboen und zwischendurch sogar die Sologeige mit der Violone-Begleitung. Immer in bester Spiellaune bis zum Schluss und der Wiederholung von Themenpartikeln aus dem lebendigen Anfangsritornell.
Ist die konzertierende Violine im Vivace kaum solistische hervorgetreten, gehört ihr jetzt das ganze Largo. Es beginnt – im Kontrast zur bisherigen Festlichkeit - meditativ in G-Dur-Harmonien, vom Basso continuo langsam schreitend kontrapunktiert. Verzierungen in der Melodie und Harmoniewechsel im Verlauf von Melodie und Zeit führen zu einem Adagio-Halbschluss, neue Erwartungen weckend…
Der befreiende G-Dur Fugato-Einsatz reisst das Orchestertutt vivace zurück in die Festlichkeit eines Palastsaals. Im Soloteil setzen nacheinander die Solistenpaare mit ihren instrumenteneigenen Klangwirkungen ein: die zwei Oboen, die zwei Blockflöten und Violine I und II, bevor nochmals das lebendige Orchestertutti dominiert. Im zweiten Solistenabschnitt stellen die beiden Blockflöten ein neues Thema vor. Die Oboen greifen es auf, die Blockflöten wiederholen, bis dann die Oboen und anschliessend die Blockflöten an den kecken ersten Vivace-Soloteil zurückerinnern. Alle Solisten vereinen sich schliesslich zu einem vorläufigen Ritornell- Zwischenhalt. Es folgt noch eine Art übermütiger Geschwindmarsch, als ob die Musiker sich mit ihren Instrumenten - abwechselnd laut und leise spielend – galant aus dem Palastsaal des Dresdeners Schlosses verabschiedeten.