Camille Saint-Saëns: Violinkonzert Nr. 2 in C-Dur, op. 58 (1858 / 1880)

 

Camille Saint-Saëns

geboren 9. Okt. 1835 in Paris

gestorben 16. Dez. 1921 in Algir

 

Entstehung:

1858 in Paris
1879 herausgegeben bei Durand & Fils, Paris

1880, 13. Februar: Uraufführung in Paris, Solist: Martin-Pierre Marsick

 

CD-Aufnahmen:

Ivry Gitlis, Violine 1968
Philippe Graffin, Violine 1998
Fanny Clamagirand, Violine 2009
Jolente De Maeyer, 2013


Camille Saint-Saëns muss in unserem Zusammenhang nicht promoted werden. Er lieferte bekannteste Beiträge zur virtuosen Violinkonzert-Literatur wie kaum ein anderer romantischer Komponist des 19. Jhds. Berühmt sind seine Havanaise E-Dur, op. 83, seine Introduction et Rondo capriccioso, op. 28, und auch seine Danse macabre. Doch schon seine drei Violinkonzerte sind weniger bekannt; am ehesten gespielt wird in heutigen Konzerten noch das Dritte Violinkonzert h-moll Op 61. Hier möchte ich ein Plädoyer halten für das in den Konzertsälen fast vergessene, chronologisch erste Violinkonzert in C-Dur des frühbegabten, jungen, romantischen Saint-Saëns.

 

Bekannt ist auch, dass Saint-Saëns, Komponist und Organist, ein überaus langes Leben führte. Er wurde 86 Jahre alt, durchlebte viele Phasen der französischen Musikgeschichte und musste am Ende seines Lebens feststellen:  „Was will ich noch? Die Zukunft zu sein, und nicht die Vergangenheit? Ich bin die Zukunft gewesen; in meinen Anfängen galt ich als Revolutionär – in meinem heutigen Alter kann man nur noch ein Vorfahre sein.“

 

Weniger bekannt ist, dass Saint-Saëns ein Wunderkind war: Mit 3 Jahren schrieb er eigenhändig – «ohne mit der Peitsche ans Klavier getrieben» worden zu sein, wie er später bekannte - sein erstes Klavierstück; mit 10 Jahren gab er sein Debüt als Pianist, mit 15 vollendete er seine erste Symphonie, mit 17 wurde er Organist, zuerst an der Pariser Église Saint-Merry, später an der Église de la Madeleine.

 

Auch das Violinkonzert Nr. 2 C-Dur stammt aus der Jugendzeit Saint-Saëns. Er komponierte es 1858 mit 23 Jahren, nachdem er bereits Sinfonien und viele andere Werke mit beachtlichem Erfolg aufgeführt hatte. Obwohl chronologisch sein erstes Violinkonzert, ist es seiner ganzen Anlage nach kein bescheidenes kompositorisches Erstlingswerk, sondern ein musikalischer Aufbruch auf eine selbstbewusste Lebensreise mit virtuosem Anspruch. Saint-Saëns schrieb es für den Maler und Geiger Achille Dien, mit dem er in seiner Jugend Kammermusik spielte. Mit dem Anspruch der Jugend will er starre Formen überwinden und das musikalische Geschehen in die Weite romantischer Aufbruchs-Sehnsucht führen, allerdings noch frei orientiert an klassischen Mustern. Saint-Saëns schien die Violinkonzerte von Vieuxtemps, aber auch das Violinkonzert von Mendelssohn gekannt zu haben, dessen Beginn mit dem Soloeinsatz des Hauptthemas über vorausgehenden Begleitfiguren vor der Orchestereinleitung ihm zum Vorbild wurde.

 

Saint-Saëns gab sein Violinkonzert C-Dur erst 1879 als zweites Violinkonzert bei Durand & Fils, Paris, heraus. Es wurde offiziell 1880 vom belgischen Geiger Pierre Martin Marsick (dem späteren Violinprofessor am Pariser Conservatoire und Lehrer von Carl Flesch, Jacques Thibaud, Cécile Chaminade und George Enescu) uraufgeführt.   

 

Saint-Saëns meinte einmal: «Das Solo eines Konzerts muss wie eine dramatische Rolle angelegt und behandelt werden». In diesem C-Dur-Violinkonzert – so könnte man sagen - übernimmt der junge Saint-Saëns musikalisch die Rolle eines jungen und freien romantischen Künstlers des 19. Jahrhunderts.

 

Hier zu hören!

 

Hörbegleiter:

NB: Der folgende Hörbegleiter verdankt einige Beobachtungen und Formulierungen diesen Beiträgen:

Duncan Druce: CD-Begleittext zur  hyperion-Aufnahme mit Philippe Graffin;

Albert Beaujean: Art. Saint-Saens, Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 C-Dur, in: Lexikon Orchestermusik Romantik hrsg. Wulf Konold.

 

Satz 1: Allegro moderato e maestoso

Über bewegten C-Dur-Achteln der tiefen Streicher erhebt sich maestoso das weitausgreifende Solothema der Violine. Deklamatorisch etabliert dieses energisch und virtuos einfahrende Hauptthema sogleich die Sologeige zum romantischen Protagonisten. Das Thema erhält alsbald eine kontrastierende, eher lyrische Fortspinnung. Dann erst übernimmt das Orchester in einer längeren Tutti-Passage das Hauptthema auf seine eigene farbige Art und fügt ihm gleich noch zwei Nebengedanken bei, einmal ein lyrisch wiegender Seitengedanke, danach ein majestätisch auftrumpfendes einprägsames Orchestermotiv.

 

Wenn die Sologeige in schönstem Holzbläserlicht wieder einsetzt, wechselt die Musik nach E-Dur. Wie es sich herausstellt, beruht dieses Thema auf dem lyrischen Fortspinnungsgedanken des Hauptthemas und breitet sich auf der G-Saite der Solovioline sehnsuchtsvoll aus. Was jetzt im durchführungsartigen Mittelteil geschieht, ist völlig freies Spiel mit all den Themen und Motiven, die immer wieder neu und sich kontrastierend aneinanderreihen und an uns vorbeiziehen. Grossartig sticht das erneut auftrumpfende einprägsame Orchestermotiv heraus. Der freie Vorbeizug der Themen bilden den Hintergrund für die freie Entfaltung und Darstellung geigerischer und musikalischer Möglichkeiten.

 

Nach einer Steigerung des Hauptthemas im Orchester setzt die Reprise ein. Die Geige antwortet mit dem jetzt lyrisch variierten Orchestermotiv aus den Seitengedanken der Exposition des Orchesters. Eine vom Orchester vorbereitete Kadenz, von Saint-Saëns selbst für dieses Konzert geschrieben, ermöglicht der Sologeige nochmals alle ihre musikalischen Möglichkeiten und Themen aufzufahren, ehe Orchester und Sologeige zum Satzschluss führen, wo nochmals das einprägsame Orchestermotiv majestätisch auftrumpft.

 

 

 

Satz 2: Andante espressivo

 

In dunklem a-moll intonieren die tiefen Streicher zweimal ein dreiteiliges Motiv, das die Sologeige bei Harfenklängen unmittelbar in ein trauriges Lied verwandelt. Das dunkle Motiv meldet sich nochmals, von ernsten Posaunenklängen klanglich untermalt, doch die Geige singt ihr Lied voll Wehmut und Leiderfahrung weiter und erweitert ihre Melodie. Das Orchester mischt sich langsam mit ein. In den Flöten klingt das klagende Lied weiter.

 

Dann bricht die Geige in einer absteigenden Figur in heftige resignierende Klage aus, das Orchester steigert sich ebenfalls in einen heftigen C-Dur-Ausbruch, ein Akt der Empörung? Der Sologeige antwortet rezitativisch, eine hohe Flöte mischt sich ein und tiefe Bläser bilden einen bedrohlichen Untergrund. Eine tröstende Flötenmelodie geht der Sologeige voran und leitet sie zurück zu einem sich zunehmend beruhigenden Gesang.

 

Doch eine unheimliche und lange, ausdrucksvolle Steigerung des Orchesters treibt die Violine zu einem erregten Soloausbruch, nochmals sucht die Sologeige Trost in ihrem erneut ansetzenden Gesang, von Holzbläsern anteilnehmend begleitet. Allerdings taucht die dunkle Stimmung in der Reprise des Anfangsmotivs im Blech wieder auf, die Geige antwortet bei Harfenklang in tiefer Lage nochmals mit ihrem erweiterten stillen Lied. Ein eindrucksvoller, die romantischen Tiefen und Abgründe erahnender Satz geht abrupt zu Ende… ohne ein Ende zu haben, denn das Ende dieses Satzes wird von einer spritzigen Überleitung direkt in die Heiterkeit eines Finalrondos hinübergeleitet.

 

Satz 3: Allegro scherzando quasi allegretto

Soll sich echte Lebensfreude einstellen? Oder stellt das Finale die Pseudoheiterkeit des philiströsen Bürgertums dar, oder flieht die Musik in die Darstellung romantischer Ironie? Wir haben keine Zeit zu überlegen, wir werden von der Geige sofort mitten ins Geschehen hineingerissen. Das macht auch diesen letzten Satz etwas zwiespältig. Der Satz beginnt mit einem spritzigen, rhythmisch eleganten Rundum-Thema, der Geiger schreitet mit langem Strich voran, das Orchester folgt und behauptet sich lärmend.

 

Nach dem Orchestertutti übernimmt wieder die Geige die Führung und spielt ein farbiges Couplet. Das Orchester unterstützt die Musik mit rhythmisch antreibenden Einschüben. Als der Rundtanz zu ermatten droht, stösst die Geige schliesslich über den Pizzicati der Streicher spitze Schreie aus (als ob «die Henne aus Le Carnaval des Animaux einen verfrühten Auftritt» hätte, wie genaues Zuhören zu hören meint).

 

Wieder startet das Rundum-Thema in Geige und Orchester, ein weiteres Couplet schliesst sich an, wo die Geige ihre virtuosen Läufe nochmals hell ins Licht stellen kann. Farbig und auf der Höhe damaliger Orchestration dialogisiert das Orchester mit der Geige. Seine Kontrapunktkünste demonstriert der junge Saint-Saëns gegen Schluss in einem brillant wirbelnden Fugato, ehe eine auftrumpfende Stretta den Satz beschliesst.

 


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