Sergei Ivanovich Taneyev
geboren 25. Nov. 1856 in Wladimir
gestorben 19. Juni 1915 in Djutkowo (bei Moskau)
Uraufführung:
22. Oktober 1909 in Moskau durch Boris Sibor
CD-Aufnahmen (Auswahl):
David Oistrach (1956) mit N. Malko
David Oistrach (1958) mit K. Kondrashin
David Oistrach (1960) mit K. Sanderling
Pekka Kuusisto (2000) mit V. Ashkenazy
Lydia Mordkovitch (2008) mit N. Järvi
«Er ist der grösste Kontrapunkt-Meister in Russland; ich bin nicht einmal sicher, dass man seinesgleichen im Westen findet» sagte Tschaikowsky einmal über seinen ambitionierten und umfassend gebildeten Schüler Sergei Taneyev. Taneyev war Pianist und hatte grossen, wenn auch problematischen Einfluss auf Tschaikowskys Klavierkonzert-Kompositionen, die er zum Teil als erster aufführte und in seinem Sinn bearbeitete. Als Komponist für Kammermusik hingegen wird Tanayev viel gelobt (sein Quintett op 30 oder Trio op 22 sind ein Geheimtipp!), aber er schuf auch Symphonien, eine Oper («Orestes») und als einziges Werk für Violine und grosses Orchester eine grossangelegte Konzert-Suite, die sich schon rein formal von einem gewohnten romantischen Violinkonzert abhebt. Er war ein Bewunderer alter Musik, seine Kennerschaft von Renaissence-Kompositionen (von Ockeghem, Lassus u.a.) sowie damit verbunden des Kontrapunkts war für Russland Ende 19. Jhd. anfangs 20. Jhd. etwas Besonderes. Taneyev galt denn auch zu seiner Zeit als ein grosser Pädagoge für Kontrapunkt, er war lange Jahre am Konservatorium in Moskau tätig. Er prägte viele Schüler, die dann auch bedeutende Komponisten wurden: Rachmaninow, Skrjabin, Glière, Ljapunow und Medtner. 1909 veröffentlichte er eine wichtige zweibändige Abhandlung,»Imitative Counterpoint in Strict Style» und begründete damit seinen internationalen Ruf als Theoretiker. Auch als Komponist verfuhr er höchst systematisch: Laut Rimski-Korsakow verfertigte Taneyew zahlreiche vorkompositorische Skizzen und Studien; er schrieb Fugen, Kanons und kontrapunktische Stücke über verschiedene individuelle Themen, Phrasen und Motive für die zukünftige Komposition, und erst nach Fertigstellung dieser Teile begann er mit dem Gesamtplan der Komposition.
Es ist nun nicht so, dass die Konzert-Suite von Taneyev so unbekannt wäre, dass es nicht diverse Aufnahmen gäbe. Doch wird diese Komposition im Westen selten live aufgeführt, auch die Aufnahmen kommen grossen Teils aus einem russischen Kontext. David Oistrach hat die Konzert-Suite sogar mehrmals aufgenommen. Dennoch hat es dieses originelle und anspruchsvolle Werk bei uns kaum aufs Konzertpodium geschafft. Anlass, genauer hinzuhören und seine Eigenart zu entdecken. Schon die Satzfolge verrät Ungewohntes für ein über 40 Minuten dauerndes Hauptwerk für Violine und Orchester:
2. Gavotte: Allegro moderato
3. Märchen: Andantino
4. Tema con variazioni
5. Tarantella: Presto
Hörbegleiter:
Es beginnt im alten Stil mit einem punktierten G-moll-Schreitakkord, dann greift sofort präludierend die Geige ein, sforzando hochsteigend von der Tonika G zur Dominante D und weiter zu G. Das wiederholt sich dann gleich in a-moll. Die Geige spielt sich ein, das Orchester begleitet, das präludierende Vorspiel wird zum ersten Themenmotiv. Fliessend geht es über in einen zweiten Themenbereich, der von einer aufwärts wiegenden Basslinie in den tiefen Streichern (ein Motiv, das später den dritten Satz prägen wird!) getragen und von einer melodiösen Abwärtsbewegung der Geige geprägt wird. In dieser Stimmung verweilen diese sich abwechselnden Motive und verlieren sich in hohen Flötenklängen, bis es dann kurz rezitativisch dramatisch weitergeht. Ein drittes Themenmotiv bringt dolce und sanft rhythmisch einen beruhigenden melodiösen und nach wie vor präludierenden Übergang, der in feinem A-Dur in den höchsten Sphären der Geige endet. Ein Einschnitt führt zum zweiten Teil des Präludiums, das mit dem ersten präludierenden Vorspiel-Motiv des Anfangs, jetzt nicht in g-moll, sondern in a-moll beginnt. Die Doppelgriffpassagen und die Orchesterläufe spielen sich das erste Thema wild hin und her, bevor ein Oboen-Solo das dritte melodiöse Thema wieder ins Spiel bringt, von der Geige sofort übernommen und im dichten Orchestersatz weiterverarbeitet. Erst dann führt die Geige solo zurück zur noch einmal erklingenden wiegenden, aber dunklen Basslinie des zweiten Themenmotivs mit der darüber schwebenden Geigenmelodie. Dann noch ein Schlussrezitativ der Geige, zurück im alten Stil des g-moll-Beginns, das Orchester reagiert abrupt und heftig, lässt dann aber die Geige allein über drei Oktaven nach unten absinken, resignierend und doch Trost suchend, denn nach diesem dichten dunklen Motivgeschehen, das die ganze Suite in nuce vorbereitet, endet alles in einem schlichten erhellenden G- Dur-Akkord mit einer sogenannten Picardischen Terz, die im 16. Jahrhundert und in der gesamten Barockzeit üblich war.
Eine Oboe, dann Flöte und Klarinette und anschliessend die Geige führen uns nach Art der alten Suiten in eine neue tänzerische Barock-Stimmung, wie sie sich die Spätromantik vorgestellt hat. Da passen auch sofort virtuose Geigendoppelgriffe und ein schöner voller Orchesterabschluss dazu. Dann folgt ein sanftes Legato-Zwischenspiel, eine Art zweiter Stollen, bevor die Geige zu einem dritten rustikalen Tanz auf der G-Saite einlädt und zu einer tänzerischen Abschlussfermate hinführt. Darauf beginnt die Geige aufsteigend eine feine Musette, die in allen Varianten wie in einer Durchführung durch Orchester und Geigensolo hindurchleuchtet, mal vom Orchester, mal von der Geige gespielt. Dann plötzlicher Schluss und Rückkehr zum Anfangsthema, allerdings langsam erlahmend und sich verlierend. Zaghafter Neubeginn, aber erst der rustikale Tanz bringt wieder Schwung, selbst das Horn stimmt mehrmals heftig mit ein und führt zu einem tänzerischen und virtuosen Schlusslauf der Geige, doch da meldet sich das erste ernste präludierende Thema des Eingangsatzes wieder, auch in g-moll, wohl daran erinnernd, dass im Leben nicht alles Tanz ist, doch die Geige moduliert nach A-Dur und führt hin zu einem versöhnten, sich senkenden barocken D-Dur-Schlussvorhang.
Mit dem Thema von der Basslinie des zweiten Themenmotivs des 1. Satzes, des Präludiums, beginnt hier die Geige ihre Märchenerzählung. Das «Es war einmal…» wird auch gleich von der Klarinette übernommen, leicht schattiert von der Geige. Hörner, Fagott und Posaunen insistieren zweimal und bewegen die Geige, mit ihrem «Es war einmal» weiterzufahren. Doch die Geige erinnert an das ernsthafte erste präludierende Thema des 1. Satzes, erfindet dann aber «languido» das ruhige sehnsuchtsvoll erzählende Hauptthema dieses Märchens. Das Englischhorn übernimmt das Thema, von Harfen begleitet, Sologeige und Flöten schwirren feenhaft über dieser Art romantischer Träumerei…. Bis dann die Basslinienthematik des «Es war einmal» wieder als Kanon erscheint, von Geige und den Bläsern des Orchester insistierend ausgespielt und moduliert. Nach einem virtuosen Lauf und hohen Triller der Geige folgt eine chromatische Abwärtsbewegung hin zu einer feinen Geigenimprovisation. Bis sich das «Es war einmal Thema» wieder laut in den Posaunen und Bläsern meldet, doch die Geige erzählt con sordino frei weiter, sinniert in feinen langen Ornamentationen über feinsten Orchesterklängen, bis dann das sehnsuchtsvolle Märchenthema vor dem Schluss nochmals in Englischhorn und Flöte erscheint und schliesslich in der Geige und verklingend in den Hörnern Abschied nimmt. Die Geige verabschiedet sich von diesem zauberhaft geheimnisvollen Satz, ein Pizzicatoschluss macht ein Ende und lässt gleichzeitig auf Neues warten.
Formal ungewohnt, aber nicht ohne Vorbild bei Tschaikowsky (Piano Trio) oder Arenski (Streichquartett Nr. 2), folgt in dieser Konzertsuite jetzt der längste Satz, und zwar als ein Thema-mit-Variationen-Satz.
Thema (Andantino): In leicht bewegtem ¾ Takt stellt sich ein einfaches und elegantes Thema vor, zweimal fein ansetzend, immer fein in Bewegung, bis es sich dramatisch steigert, kurz in punktierte Achtel ausbricht, dann aber eingemischt in lyrische Bläserklänge langsam wieder niedersinkt und sich edel verabschiedet.
Suitenhaft folgen nun ganz unterschiedliche Variationen, jedes Mal Geist und Emotionen der Zuhörenden neu überraschend.
Variation 1 (Allegro) führt die Bewegung des Themas gleich auf Sechszehntel beschleunigend weiter und steigert Dauer, Virtuosität und Geigenfinesse. Leichtes Flötenspiel mischt sich mit ein, alles wirkt leicht und drängt auf ein delikat witziges Ende hin.
Variation 2 (Allegro energico) ist mehr als dreimal so lang wie das Thema und dramatischer. Auf der dunklen G-Saite betont ein zupackendes Geigensolo die ungeraden Takte. Gleich danach erkennt man den Einschub des Präludien-Themas aus dem ersten Satz, dunkle Erinnerungen zuerst, die sich dann beim zweiten Mal nach A-Dur aufhellen. Terzendoppelgriffe der Sologeige reissen mit, doch dann insistiert die Geige auf ihrem energischen gegen-getakteten dunklen Thema samt Einschub und treibt dieses Thema wild in die Dissonanten und Unsicherheiten, bis das Orchester heftig alles unter sich zudeckt und allem einen Schluss macht.
Variation 3 (Tempo di valse) taucht dann wie aus dem Verborgenen mit ihrem A-Dur-Sologeigen-Walzerthema hervor, als ob Taneyev seinem Lehrer Tschaikowsky die Reverenz erweisen müsste. Die Bläser übernehmen das Walzerthema, die Geige verziert es chromatisch elegant. Im Mittelteil zieht die Geige ihr nächstes Walzerthema sozusagen auseinander, noch mehr Breite und wunderschönen Schmelz erträgt es kaum, schliesslich kommt es trotz ständigem Dreivierteltakt fast zum Stillstand, bevor sich die Tanzenden langsam wieder zu drehen beginnen… doch überraschend endet der neue körperliche Schwung direkt attacca im puren Geistigen einer Doppelfuge…
Variation 4 (Fuga doppia. Allegro molto). Die Hörner präsentieren in brillantem Ton das erste Fugenthema, das dann gleich vom Orchester in vier Einsätzen exponiert wird. Gleich anschliessend kommt die Sologeige mit dem zweiten Fugenthema, das etwas leichter daherkommt und von den Holzbläsern elegant fugiert und polyphon durchgeführt wird. Die folgende Doppelgriff-Virtuosität der Geige erinnert dann wieder an das präludierende Themenmotiv, das das ganze Werk durchzieht und hier im Zentrum des Variationensatzes aufzutauchen hat. Dann übernimmt wieder das erste Fugenthema, bevor eine präludierende Kadenz der Geige zu einem breit ausgreifenden Schluss führt.
Variation 5 (Presto scherzando): Wieder werden die Zuhörend überrascht, nach der Fuge im alten Stil folgt wie ein guter Scherz ein spritziges Presto-Geigensolo. Virtuos eilt die Geige voran und vertreibt alle Barocknostalgie, pure Gegenwart und Freude.
Variation 6 (Tempo di Mazurka. Allegro con fuoco): Mit dem ¾ Takt einer volkstümlichen Mazurka markiert die Sologeige energisch ihre Präsenz im Hier und Jetzt, von den gegenrhythmischen Sforzati des Orchesters begleitet. Chromatische Doppelgriff-Kaskaden stechen virtuos hervor, das Mazurkathema wird variiert und erscheint in unterschiedlich leidenschaftlichen Farben, feurig bis zum Abschluss.
Variation 7 (Variazione finale e coda. Andante): Vom Englischhorn und vom Solocello sowie den gedämpften Streichern begleitet, spielt die Geige eine wehmütige, langgezogene romantische Melodie, deren scheinbaren Endlosigkeit man sich einfach hingeben kann, ruhend oder sich sehnend. Jedes romantische Violinkonzert wünschte sich so einen Mittelsatz. Dann nach mehr als 500 Takten taucht in oktavierter Höhe in der Geige das Anfangsthema dieses Variationensatzes wieder auf, verklärt in sich ruhend. Die Oboe wiederholt das Thema, die Streicher untermalen tremolierend und die Geige leitet über zu einer Coda, in der Oboe, Englischhorn und Geige das Thema nochmals im Kanon erinnern und es ruhig in höchsten Sphären aufwärts verklingen lassen.
Was zu einem romantischen Violinkonzert gehört, und erst recht zu einer vom Tanz geprägten Suite, ist ein echter Rausschmeisser-Schlusssatz. Taneyev offeriert eine süditalienische Tarantella in ausgelassenem Presto-Tempo und mit dem obligaten Tamburin. Das Orchester gibt gleich feurig den Rhythmus an, die Geige übernimmt und bringt das Thema. Das Orchester verstärkt, die Geige brilliert. Ohne an tänzerischem Schwung zu verlieren folgt eine etwas zärtlichere Variante der Tarantella, von der Geige angeführt. Dann folgt ein Mittelteil meno mosso, die Geige spielt eine expressive Melodie und leitet über zu einem Klarinettensolo, das den Taratella-Rhythmus wieder einbringt und den Tanz wieder zu wilder Ausgelassenheit zurückführt. Nochmals entschwebt die Geige in träumerische Lyrik, wie sie schon im Präludium aufgetaucht ist. Doch gleich bestimmt der Tarantella-Rhythmus wieder das Geschehen. Auch eine sonore Cellomelodie ist nur farbige Abwechslung, die Tarantella reisst alles ausgelassen mit sich. Nach einem heftigen Paukenwirbel startet die Geige nochmals wild ihren Schlussspurt, eine Coda, die Orchester und vor allem die Geige zu extremem Drive und überbordender Virtuosität antreibt. Alles dreht sich im stampfenden Rhythmus der Tarantella und bringt diesen Tanz feurig zu einem brillanten Ende.